Die Story macht blind

In Prag. In meinem Hotelzimmer sehe ich Fern. Es gibt nur wenige deutsche Kanäle, ich bleibe bei RTL oder RTL II hängen. Es ist früher Nachmittag, es läuft eine Reality TV Serie. Eine Mutter lebt mit ihrer Tochter bei einem neuen Mann, der einen Sohn im Alter der Tochter hat. Im Verlauf der Sendung kommt heraus, dass der Sohn die Tochter missbraucht und bedroht hat, doch sie sagt es der Mutter nicht, weil sie nicht das Glück der Mutter mit dem neuen Mann gefährden will.

Die Geschichte ist voll von Klischees, schlecht erzählt, furchtbare Schauspieler. Ein durchsichtiges Unterfangen, und dennoch:

Ich breche in Tränen aus. Die Macher der Geschichte ziehen alle Register und ich funktioniere. Ich sehe selten Filme, ich sehe so gut wie nie fern. Ich bin dem wie wehrlos ausgeliefert.

Ich bin zu einem Dokumentarfilmfestival nach Prag eingeladen, wo ich über Korsakow spreche und darüber, wie “Story” uns davon abhält, die Welt wahrzunehmen.

Wenig später treffe ich auf dem Festival eine Frau. Sie ist die Produzentin eines Films. Der Film hatte am Vortrag Premiere. Es ist ein Film über den Bürgerkrieg, der gerade in Syrien stattfindet. Die Frau erzählt mir, wie die Filmemacher monatelang in einer von den Regierungstruppen belagerten Region verbrachten, wie sie das Grauen des Krieges, das Sterben der Menschen erlebten und beobachteten. Ein wichtiger Film, zweifellos.

Der Raum, in den wir stehen ist laut, viele Menschen um uns herum, die Luft ist stickig, ich bin abgelenkt. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken schweifen ab, das Sterben der Menschen in Syrien ist weit weg. Ich denke an die Mutter und ihre Tochter auf RTL II. Deren Geschichte hält meine Gedanken gefangen.

Meine Mitgefühl ist okkupiert von einer künstlichen Geschichte.