Film ist tot

Das Korsakow-System oder von der Allergie gegen lineare Geschichten.

Das Konzept des linearen Films ist tief in unserem Denken verankert – eine unnötige Beschränkung in Zeiten der Digitalisierung, findet Florian Thalhofer. Ein Plädoyer für neues Erzählen jenseits fester Reihenfolge.

Ursprünglich veröffentlicht im Magazin “Schnitt – Das Filmmagazin”
#66, 02.2012

Film ist bei jedem Ansehen gleich. Die Tonspur, jede Szene, jedes Bild ist ein für alle Mal aneinandergeklebt. Der Autor des Films legt die Reihenfolge beim Schnitt fest. Sie gilt von da an und theoretisch für alle Ewigkeit.
Das Konzept des linearen Films entspringt den Beschränkungen der Vor-Computer-Zeit. Denn früher war Film auf Rollen gewickelt. Es ging gar nicht anders, als ein Bild ans andere zu kleben. Doch die Zeiten haben sich geändert. Film wird auf Datenspeichern aufgenommen, auf Computern weiterverarbeitet. Von Rollen, auf denen der Film aufgewickelt ist, keine Spur mehr. Doch noch immer kleben die Autoren der Filme ein Bild ans nächste, so dass die Filme bei jedem ansehen gleich sind. Warum nur?

Nun ja, wir haben uns daran gewöhnt. Und was man 120 Jahre so macht, muss seine Richtigkeit haben. Der lineare Film ist ja auch ein faszinierendes Erzählwerkzeug, mit dem sich wunderbar Zusammenhänge darstellen lassen. Und diese Verknüpfungen lassen sich einem Publikum vorführen, dass dann erkennen möge, dass Dinge, deren Zusammenhänge sich auf den ersten Blick nicht erschließen lassen, am Ende doch miteinander in Verbindung stehen. Dass eins zum Anderen führt. Und so hat uns der Film geschult zu erkennen, wie sehr alles auf der Welt, miteinander verknüpft ist. Wir haben gelernt wie eins zu anderen führt, der Gebrauch von FCKW-haltigen Kühlschränken und Spraydosen zum Ozonloch über den Polkappen und das Verbrennen fossiler Energien zur Erderwärmung. Das sind Meisterleistungen der Erkenntnis und ich behaupte, dass uns die Prägung unserer Hirne mit Film erst in der Lage versetzt hat, derart komplexe Zusammenhänge zu sehen, zu begreifen und weiten Teilen der Gesellschaft verständlich zu machen.

Während ich dies schreibe, liege ich, mit hochgeklappter Rückenlehne, in einem Krankenhausbett, auf einer Überwachungsstation für Schlaganfallpatienten. Ein winziges Blutgerinsel hat die Durchblutung in einem kleinen Bereich meines Stammhirns unterbunden, Gehirnzellen sind abgestorben, nun hängt mein linkes Augenlied etwas herab, ich kann auf der rechten Körperhälfte keine Temperatur mehr wahrnehmen und für ein paar Stunden war auch meine sprachliche Ausdrucksfähigkeit beeinträchtigt. Das Blutgerinsel im meinem Kopf kann man mit einer modernen bildgebenden Maschine sichtbar machen. Tun kann man wenig, ich liege seit ein paar Tagen an Geräte angeschlossen, weil man herausfinden möchte, was genau zu diesem Schlaganfall geführt hat. Denn eigentlich bin ich dafür zu jung. Man ist auf der Suche nach einer überzeugenden Geschichte, die meine Situation jetzt, in der Vergangenheit erklärt, so dass man mit der Erkenntnis meine Zukunft positiv beeinflussen kann.

Für meine Familie ist die Sache klar: ein früherer Freund und Geschäftspartner hat mich betrogen, seit mehr als einem Jahr geht es vor und zurück und die Auseinandersetzung erreichte in den letzten Tagen einen neuen Höhepunkt. Für meine Familie trägt er die Schuld und sie sinnt auf Rache. Die Ärzte untersuchen mein Herz, meine Adern, mein Blut und meine Gene. Stress, sagt der Arzt, darüber lässt sich wissenschaftlich kein Zusammenhang zum Schlaganfall herstellen.

Es ist egal. Wenn ich in einigen Tagen dieses Krankenhaus verlasse, dann soll mir eine möglichst lineare Geschichte mitgegeben werden. Eine Geschichte, die mich beruhigt, die mir Sicherheit gibt, für die Zukunft. Ob sie nun wahr ist oder nicht. Mit einer klaren Geschichte, sagen die Ärzte, lebt es sich beruhigter. Mir würde eine Geschichte gefallen, die sagt, dass ich in der Vergangenheit zu wenig Schokoladenkirschtorte gegessen habe. Aber meine Freundin findet das nicht lustig und vermutlich werden mir die Ärzte diese Geschichte nicht schenken.

Doch ich will gar keine lineare Geschichte. Ich will nicht den einen Grund hören, der meine jetzige Situation verursacht haben soll. Außer vielleicht, er ist wirklich 100%ig wahr. Doch das ist unwahrscheinlich. Die Ärzte haben schon angekündigt, dass es den einen Grund wohl kaum geben wird. Der menschliche Körper ist komplex, zahllose Faktoren beeinflussen sein Wohlergehen. Würde man den einen Grund finden, es wäre praktisch. Ein zu hoher Cholesterinspiegel kann bekämpft werden, indem man die Ernährung umstellt und Tabletten nimmt. Ich wäre eine Sorge – die nach einem neuerlichen Schlaganfall – los, und wäre für den Rest meines Lebens an die Einnahme von Tabletten gefesselt (oder je nachdem, Schokoladenkirschtorte). Wenn ich mit der Unsicherheit, den Grund für meinen Schlaganfall nicht zu kennen, leben könnte, oder besser noch, es gar nicht als Unsicherheit empfände, wäre ich mit Sicherheit freier. Kein Zwang Tabletten zu nehmen, von denen ich auch nicht wirklich sicher sein kann, dass sie das Problem lösen. Dem Erkennen einer Ursache wohnt die Panik inne. Denn wer den wahren Grund kennt, kann einen Fehler machen. Und dieser Fehler kann in meinem Fall sogar tödlich sein! Das heißt, ich werde mein Leben lang in Angst leben müssen, einen tödlichen Fehler zu begehen. Keine sehr entspannten Aussichten.

Das Gegenteil zu tun, also alle Schlüsse und Ratschläge der Ärzte zu negieren und sich in Zukunft so zu verhalten, als wäre nichts passiert, wäre selbstverständlich auch nicht klug. Das kann es also nicht sein. Wie wäre es also, all die Informationen, die Ratschläge und Gründe in einen Sack zu tun und seinen Inhalt immer wieder aufs neu zu betrachten? Wie in einer Kristallkugel, die einem angepasst an die sich über die Jahre ändernden Gegebenheit, immer wieder kluge Vorschläge macht, ohne einen mit dem tödlichen Fehler zu bedrohen?

Ich erzähle Geschichten seit vielen Jahren anders. Nichtlinear und variabel, so dass sie bei jedem Ansehen anders sind. Ich als Autor lege sowohl die Inhalte, als auch die Regeln fest, auf Grundlage derer sich mögliche Reihenfolgen ergeben. Doch ich vermeide dabei stets, die möglichen Abläufe der Geschichten vorherzusehen. Eben nicht zu spekulieren, was die knackigsten, die am meisten Sinn machenden Verbindungen sind. Denn sonst sehe ich die Verbindungen in die Dinge hinein und die Klugheit des Werks ist begrenzt auf meine Klugheit als Autor. Ich möchte selbst überrascht werden. Ich möchte erhellende Muster entstehen lassen, die sich in immer neuen sinnvollen Variationen zusammensetzen. Ich möchte erkennen, nicht erklären.

Meine Faszination für das Geschichtenerzählen und für den Computer begann in der selben Zeit. 1997 habe ich die “kleine welt” geschrieben (www.kleinewelt.com), eine interaktive, nichtlineare Geschichte, über das Aufwachsen in der Provinz. Es war der Versuch, eine Geschichte so zu erzählen, wie es auf dem Computer Sinn machen. Ein Computer ist keine Filmrolle, kein Tonband, keine Schallplatte. Der Computer organisiert die Daten nicht, wie auf einer Perlenkette aufgereiht. Man kann mit einem Computer sehr einfach mannigfaltige Verbindungen herstellen und man kann Programme schreiben, die sinnvolle Verbindungen von weniger sinnvollen unterscheiden. Diese Art Informationen, Elemente, Erinnerungen, Gedanken zu organisieren ist viel wärmer, viel verständnisvoller, viel menschlicher. Es kommt der Art, wie unser Hirn Informationen arrangiert, nahe. Im Jahr 2000 habe ich die erste Version des Korsakow-Systems geschrieben, einer Software, mit der sich auf sehr einfache Art und Weise nichtlineare und interaktive Filme programmieren lassen. Das Prinzip ist dabei immer gleich. Eine Korsakow-Erzählung besteht aus Inhaltselementen, den “Smallest Narrative Units” (SNUs), die Verbindungsstellen “Points Of Contact” (POCs) besitzen, an die wiederum andere SNUs andocken können. Der Autor definiert den Inhalt der SNUs und bestimmt die POCs, der Rest ist Mathematik. (Die Begriffe “SNU” und “POC” stammen von dem Filmemacher Heinz Emigholz, der 2002 an der Universität der Künste einen Vortrag über die Mechanik des Korsakow-Systems hielt.)

Seit 2009 wird die Software von mir zusammen mit Prof Matt Soar und dem Programmierer David Reisch an der Concordia University in Montreal weiterentwickelt. Ich benutze seit 12 Jahren fast ausschließlich das Korsakow-System für meine Arbeiten und habe sein Prinzip neben Filmen auch auf Installationen in Raum, auf Diskussionsveranstaltungen und auf Vorträge übertragen.

Film ist tot. Ich kann mir nicht vorstellen, dass heute noch ein Film eine Generation prägen könnte. Dass ein Film noch mehr vermag, als eine vergängliche Mode zu beeinflussen. Dass Film noch etwas verändern kann. Fernsehen mag heutzutage Generationen prägen, und mehr und mehr das Internet. Doch Film? Film ist Entertainment geworden, der Zuschauer versteht die immer gleichen Strickmuster: “Das ist ja nur Film”, sagt meine Mutter, “Das ist ja nur Fernsehen”, habe ich sie seltsamerweise noch nie sagen hören und: “Das ist ja nur Internet” habe ich überhaupt noch nie jemanden sagen hören.

Mittlerweile kann ich sie kaum mehr ertragen, diese linearen Geschichten, die gute Story, die von jedem und überall ständig erzählt werden muss. Seien es Politiker, Waschmittelhersteller, Journalisten oder der Bäcker um die Ecke. Alle entwickeln sie “convincing stories”, und wenn ich diese Geschichten nur rieche, weiß ich schon, ich werde verarscht. Wer selbst Geschichten baut, weiß, wie sehr man die Realität in die Form zwingen muss, damit sie funktioniert – damit die Form funktioniert, in der sich Realität transportieren lässt, die dann allerdings verbogen ist.

Diese Allergie auf die lineare Geschichte, dieses Misstrauen der Erzählung gegenüber stelle ich seit ein paar Jahren nicht nur bei mir, sondern bei immer mehr Menschen fest. Vor kurzem bin ich durch Griechenland gereist und habe mit Menschen dort über die Wirtschaftskrise gesprochen. Junge wie alte, immer wieder haben die Leute gesagt, wie sehr sie den Geschichten Misstrauen, die da erzählt werden. Und dass man ins Internet schauen soll um sich dort selbst ein Bild zu machen. Und zuerst habe ich geschmunzelt und habe gedacht: “Ach ja, das Internet, das ist ja so verlässlich.” Und doch, mir geht es ja nicht anders: ich traue meinem Hirn und meiner Wahrnehmung und die vielen widersprüchlichen Meinungen verwirren mich nicht, sie geben mir Klarheit. Viele und immer mehr Menschen empfinden das so, Menschen auf allen Ebenen der Gesellschaft. Es ist ein Revolution im Gange. Ein Paradigmenwechsel hin zu einer widersprüchlicheren, vielschichtigeren Gesellschaft, einer Gesellschaft die in der Lage sein wird, nicht nur komplexe Zusammenhänge zu erkennen, sondern auch in der Lage ist, komplexe Beziehungsgeflechte zu sehen, zu begreifen und weiten Teilen der Gesellschaft verständlich zu machen.

Vor ein paar Jahren war ich zum Mittagessen mit dem Filmemacher Hartmut Bitomsky verabredet. Er war damals Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Wir unterhielten uns über neue Erzählformen im Internet und ich wollte frech sein: “Sicherlich, Film wird es immer geben, aber in 10, 15 Jahren wird es sein, wie wenn man in die Oper geht: Man zieht sich schick an, geht ins Kino und geht danach teuer Essen. Es ist ein gesellschaftliches Ereignis, gesellschaftliche relevant ist es nicht mehr.”
Die Antwort Bitomskys hat mich verblüfft. Er sagte: “Ich weiß, aber meine Studenten wissen es noch nicht.”

Dieser Text wurde ursprünglich veröffentlicht im Magazin “Schnitt – Das Filmmagazin”
#66, 02.2012