Offener Brief an meine Freunde oder wie man ein Iglu baut

Welche Realität war gleich wieder die richtige?

Nicht wenige meiner besten Freunde fürchten sich schon davor, dass ich wieder damit anfange: “Multiperspektive”.

Denn so nenne ich das, was ich seit ein paar Jahren immer mehr und allenthalben sehe, wie ein Pflänzchen, das sich an allen möglichen Orten immer mehr ausbreitet. Aber meine Freunde wollen sich nicht so viel (wie ich) über Blätter unterhalten, und wie könnte man es ihnen verdenken? Meine Freunde interessieren sich ja auch noch für andere Dinge, wie Kunst und Kultur oder welchen Schrank man kaufen will, oder wo am besten. (“Danke für den Tipp, Jim, wir haben einen gefunden!”).

Ich lebe ja auch auf dieser Welt und ich kenne und schätze den Wert solcher Gespräche. Wir leben in der Stadt, da ist das Zeug, das da wächst nicht so wichtig. Meine Freunde sind keine Botaniker, die sich auf die Detailverliebtheit einlassen könnten, die es braucht, wenn man Blattstrukturen untersuchen will (bzw muss. Ich muss, ich kann es nicht lassen. “Verdammt, das ist wichtig! Ja auch bei diesem Pflänzchen, das da zwischen den Ritzen auf der Strasse wächst.”) Und so zucken meine Freunde leicht zusammen, wenn ich schon wieder auf ein Blatt zeige und ausrufe: “Multiverspektive!”.

Meine Freunde scheinen vor lauter Stadt nicht zu sehen, wie gerade eine Pflanze dominant wird, die vermutlich in wenigen Jahren völlig unser Denken beeinflusst haben wird — und ich vermute, dass genau dieses Denken notwendig sein wird, um die Karre noch mal rumzureissen, und wir so vielleicht, wie bei einem Computerspiel, auf den nächsten Level kommen. Wie gesagt, das vermute ich, das kann jetzt aber noch niemand wissen. So wie man nie wissen kann, wie sich die Zukunft sich entwickeln wird. Aber es gibt Wetterprognosen. Und ich bin sowas, wie ein Wetterfrosch. Denn wie das Schicksal so wollte, habe ich genau das ich sein mehr als 20 Jahren studiert. Was genau? Das Pflänzchen.

Gras, also Cannabis, also die Pflanze für die sich immerhin noch ein paar Leute mehr interessieren, ist: absolut gar nichts dagegen. Ich sehe ja, wie das, was da im Entstehen ist, schon jetzt kolossal unser Denken verändert. Ja, auch Deins! Schau einfach hin, dann kannst Du es sehen. Und denke nicht, das sei normal, nur weil es Deinen Freunden mehr oder weniger genauso geht.

Wie soll ich sagen? Man kann es deutlich erkennen, wenn man in eine andere Richtung schaut als man es gemeinhin gewohnt ist. Wenn man ins Weltall schaut ist es dunkel, wenn man die Sonne im Rücken hat. Auf der Erde nennt man dieses Phänomen “Nacht”. Doch die Nacht geht dem Ende entgegen. Und man kann die Dämmerung bereits wahrnehmen. Wenn man dahin schaut, wo die Sonne aufgehen wird. Wenn man irgendwohin schaut, dann bekommt man sehr wahrscheinlich nicht mit, dass es dämmert.

Die Pflanze wird von Tag zu Tag grösser, hier ist mir nun ein besonders schönes Exemplar untergekommen: Könnt Ihr Euch das bitte mal anschauen? Hört Euch diesen Beitrag an, und ruft Euch alle 30 Sekunden das Wort “Multiperspelktive” in Erinnerung, stellt Euch in Gedanken meine Stimme vor und das, was ich seit Jahren über die über die Struktur der Blätter gesagt habe. Könnt ihr es jetzt sehen?

Für die alle die nicht wissen, von WTF ich rede – diese Pflanze haben natürlich auch schon andere bemerkt. Leute, die es anders ausdrücken. Immer mehr Leute beschreiben das selbe Phänomen, das ist nur nicht so einfach zu erkennen, denn sie beschreiben es aus vielen verschiedenen Blickwinkeln und geben der Sache unterschiedliche Namen.

Judith Aston hat mich auf den Begriff Metamodernismus gestoßen, ich würde sagen es ist das gleiche Phänomen:

Man könnte jetzt natürlich fragen: “Ok. Das Ding, das Pflänzchen, Metamodernismus, Multiperspektive oder was auch immer, es kommt ja sowieso. Warum sollten wir da irgendwie (und wie überhaupt?) eingreifen, ist ja nichts schlechtes, oder? Warum also jetzt so viel Energie für etwas verwenden, wo es doch noch andere mindestens ebenso wichtige Dinge gibt?”

Die Frage ist sehr berechtigt und ich würde ganz nüchtern antworten: “Weil ihr Euere Kinder so erziehen wollt, dass sie gut auf die Zukunft vorbereitet sind. Dass man ihnen also heute schon beibringt, wie man die Pflanze erkennen kann, wie man deren Wirkung verstehet, um in Zukunft mit und nicht gegen die Pflanze zu arbeiten. Auf der anderen Seite sind dann bestenfalls die, die sich später ständig in den Ästen der Pflanze verheddern, weil sie sie nie zu sehen gelernt haben.

Geschichten sind nur Worte, die sich zufällig reimen

Ein paar Worte über Geschichten, betrachten Sie diese als wahr. So wahr, wie Geschichten eben sein können. Alle Geschichten sind gemacht, sind konstruiert, sind künstlich, kämen so in der Natur nie vor. Es gibt keine wahren Geschichten, man könnte sogar sagen, die wahre Geschichte an sich, ist eine Erfindung und doch sind Geschichten alles, was wir haben, und alles was ist, haben wir Geschichten zu verdanken.

Ohne Worte, zu Geschichten gebündelt, könnten wir uns an die Welt nicht erinnern. Wir könnten nur sehen und hören und fühlen und schmecken was ist, wir könnten die Welt wahrnehmen, doch sie wäre zerronnen, sobald der Augenblick vergangen und in der Vergangenheit verschwunden ist. Wir könnten uns an nichts erinnern. Alles bestünde nur aus dem Moment, in dem es ist. Ohne Worte wäre der einzige Ort, an dem wir leben könnten, der immerwährende, ewige Moment.

Eine Geschichte ist nicht mehr als ein Bündel Worte, die sich auf bestimmte Art und Weise reimen. Der Reim ist das, was die Worte zusammenhält, so dass sie in Erinnerung bleiben können, von Gehirn zum Gehirn transportiert werden können, von Dauer sein können [1].

Worte mögen eine Annäherung an das sein, was ist, Geschichten hingegen sind willkürlich. Geschichten interessieren sich nicht dafür, ob sie näher oder weiter sind von dem, was ist. Geschichten interessieren sich nur dafür, ob sie sich reimen. Je besser der Reim, desto besser die Geschichte.

Nicht jedes Hirn schätzt alle Reime gleich. So bevorzugen manche zum Beispiel einfachere Reime, manche komplexere, manche lustigere, manche ernsthaftere, manche mit einer klareren Melodie, manche mit einer polyphoneren. Und so schätzt nicht jedes Hirn die gleichen Geschichten, doch alle Hirne schätzen Geschichten.

Worte außerhalb von Geschichten machen keinen Sinn, fallen auseinander, sind leere Worte. Die Zahl der nicht-gebündelten Worte, die sich ein Hirn merken kann ist begrenzt, die Zahl der Geschichten, die sich ein Hirn merken kann, mag auch begrenzt sein, doch sie ist gewaltig groß. Sie können es selbst sehen, sobald Sie Ihren Blick nach innen richten. Betrachten sie all die Geschichten, an die Sie sich erinnern können, all die Geschichten, die Sie zu dem machen, was Sie sind.

Alle Geschichten sind Erfindungen. Sie sind alles, was wir haben. Alles, was wir sind.


[1] Zwar gibt es Techniken und Technologien Wissen aus Hirnen auszulagern (Bücher, Filme, ect.) doch kann dies eben immer nur (unbelebter) Zwischenspeicher sein.

Signal & Noise & Lineares Erzählen

Leute denken oft, dass Dinge dann Sinn machen, wenn sie sich linear ausdrücken lassen. Etwas überzeugt, wenn es in Worten gesagt werden kann, in Form eines Textes, am besten in einem Buch oder auch in einem (linearen) Film. Und so überprüft man Dinge (Gedanken, Beobachtungen) nicht nur in der Akademie auf ihre Sinnhaftigkeit indem man sie daraufhin überprüft, ob sie sich in linear-kausaler Logik ausdrücken lassen. Es ist ein Standardverfahren, Sinn von Unsinn, “signal” von “noise” zu unterscheiden. Lässt sich etwas linear-kausal erklären? Wenn ja, muss es stimmen.

Die Methode, Dinge linear kausal zu ordnen, ist wunderbar und hat massgeblich dazu beigetragen dahin zu kommen, wo wir als Menschheit jetzt sind. Linear-kausales Denken hat uns in die Lage versetzt, nicht nur die Technologien zu entwickeln, die heute weitestgehend unser Leben weltweit prägen, sondern auch die Gesellschaften und Kulturen in denen wir leben. Linear-kausales Denken prägt so gut wie jeden Aspekt des Lebens, wie Städte aussehen ebenso wie Gemeinschaften strukturiert sind, wie Kraftwerke oder Fortbewegungsmittel konstruiert sind.

Und doch es ist vermutlich nicht die einzige Methode Sinnhaftigkeit zu erkennen und auszudrücken. Eine andere Methode (und ich bin versucht zu sagen die andere Methode) ist nichtlineares, multikausales Denken wie es sich z.B. in Korsakow ausdrückt. Jedes Ding (jeder Gedanke, jede Beobachtung) hat viele Bezüge gleichzeitig. Alle Dinge beeinflussen sich gegenseitig, üben Kräfte aufeinander aus. Dabei ist alles immerzu in Bewegung und jedes Ding hat Auswirkungen auf alle anderen Dinge. Das scheint mir das Grundprinzip zu sein, das auf allen Eben und überall im Universum gilt. Innerhalb eines Atoms ebenso, wie innerhalb von Galaxien. Unsere Gesellschaften verhalten sich so, unsere Beziehungen untereinander, alles was wir tun hat Auswirkungen in alle Richtungen (the flap of a butterfly) und alles was wir tun ist dabei gleichzeitig Ergebnis von Kräften, die aus allen Richtungen auf uns einwirken.

Leute denken oft, dass Dinge Sinn machen, wenn sie sich linear ausdrücken lassen. Ich vermute es könnte eher umgekehrt sein:

Lineare Ausdrucksformen lassen Dinge sinnvoll erscheinen, die sich in diesen Formen ausdrücken lassen. Dinge die sich nicht linear ausdrücken lassen erscheinen hingegen sinnlos, sie scheinen “noise” zu sein.

Könnte es sein, dass es noise in dem Sinne gar nicht gibt, dass das, was uns wie noise vorkommt eigentlich signal ist und wir es nur nicht lesen können?

My Favorite Interactive Documentaries Are The Ones I Made Myself – In Search Of The Author

Anna Wiehl invited me to give a talk in the lectures series “Digital documentary practices – Topical paradigm shifts in negotiating ‚the Real‘” at the University of Bayreuth . I am honored and excited and created an almost brand-new talk looking at people thinking and breathing YouTube. How does the way YouTube changes the thinking of people ‚who take YouTube serious‘ compare to how Korsakow changed my thinking? There are many parallels.

Anna Wiehl wrote on Facebook that „Florian Thalhofer is always good for a surprise“. I take it as a compliment.

The lecture was Wed, Dec 8th, 2021, 16:00h, and took place on Zoom. I re-recorded the Talk the next day.

Link to the lecture series:
https://did.avinus.org/virtuelle-ringvorlesung/

Alles ist Werkzeug – Werkzeug, welches das Denken formt.

Die Dinge formen das Denken, so wie das Denken die Dinge formt.

“Alles ist Werkzeug, das Denken formt?”, mögen Sie fragen, “Wie soll eine Tasse ein Werkzeug sein, das Denken formt?”.

Auf diese Frage lässt sich mit einem einfachen Gedankenexperiment antworten, das sich auf jedes Ding oder jeden Gedanken anwenden lässt, der zu einem früheren Zeitpunkt nicht existierte, also irgendwann einmal erfunden werden musste.

Das Gedankenexperiment funktioniert so:
Stellen Sie sich vor, wie eine Welt aussehen würde, wenn eine bestimmte Sache (ein bestimmter Gedanke) nicht er- oder gefunden worden wäre.

Gedanken bauen aufeinander auf. Jeder Gedanke baut auf früheren Gedanken auf, so wie jede Erfahrung auf früheren Erfahrungen aufbaut. Was für Gedanken und Erfahrungen gilt, gilt auch für Dinge. Wäre eine Sache zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erfunden worden, wären damit auch alle daraus folgenden Dinge nicht erfunden worden oder hätten entstehen können.

(Dieses Phänomen wird oft als Pfadabhängigkeit bezeichnet).

Was bedeutet das für unsere Tasse?
Ohne Tasse keine Möglichkeit, Flüssigkeit zu speichern. Ohne die Möglichkeit, Flüssigkeit zu speichern, keine Möglichkeit, Treibstoff zu speichern. Ohne Treibstoff, kein Auto. Ohne Becher oder Tasse würden wir also in einer Welt ohne Autos leben (und ohne viele andere Dinge, die die Erfindung des Bechers voraussetzen – und das ist: eine Menge).

Alles, was wir heute haben, alles, was der Menschheit derzeit zur Verfügung steht, beflügelt unsere Vorstellungskraft und Kreativität uns mögliche Zukünfte vorzustellen, was natürlich ein erster Schritt ist, um dorthin zu gelangen. Und in diesen Zukünften werden die Menschen wieder neue Dinge erfinden und sich Gedanken ausdenken. Dinge und Gedanken, die dann wiederum die Grundlage für zukünftige Dinge und Gedanken sind.

Genau wie in der Vergangenheit. Wenn Sie auf die Vergangenheit zurückblicken, können Sie sehen, wie ein Gedanke auf anderen aufbaut und wie Gedanken von einander abzweigen, wie Ideen, entstanden sind, die wiederum zu neuen Ideen geführt haben.

Und so wie “keine Tasse” “kein Auto” zur Konsequenz hätte und gleichzeitg wohl auch “keine Tasse” zu “kein Kaffee” geführt hätte, der neben dem Computer steht, auf dem ich diese Worte tippe.

Doch höchstwahrscheinlich hätte “keine Tasse” auch zu “kein Computer” geführt und vielleicht würde es nicht einmal die Worte, oder zumindest jedenfalls viel weniger Worte geben und ganz sicher kein Tippen – denn höchstwahrscheinlich wäre ohne die Erfindung einer Tasse auch das Tippen nicht erfunden worden.

Verlassen wir diese Achterbahn des Gedankenexperiments und kehren lieber zurück in die Überschaubarkeit des Jetzt.

Was sehen Sie vor sich, wenn Sie durch Ihre Augen blicken?

Alle Dinge, die Sie sehen können, lassen sich in eine von zwei Kategorien einordnen.

A) Dinge, die Sie verstehen, und B) Dinge, die Sie nicht verstehen.

Und wenn Sie wie ich sind (oder wie Erwachsenene im allgemeinen), dann sehen sie viel mehr Dinge, die Sie verstehen, als die, die Sie nicht verstehen. Und Verstehen bedeutet nur, dass man mit dem Grad des Verstehens, den man erreicht hat, zufrieden ist. Der Staubsauger zum Beispiel, der neben mir liegt (ich muss ihn irgendwann mal wegräumen) – natürlich verstehe ich nicht wirklich, wie ein Staubsauger funktioniert, (was ich mir auch einfach selbst beweisen könne, wenn ich versuchen würde einen Staubsauger zu bauen), aber ich habe ein allgemeines Verständnis. Ich verstehe nicht die Details und kenne vielleicht nicht einmal alle praktischen Verwendungsmöglichkeiten des Staubsaugers, aber ich bin mit meinem Kenntnisstand zufrieden. Es genügt mir, nicht tiefer zu gehen zu wollen. Meine Einstellung (nicht die Sache selbst) macht diesen Staubsauger zu Teil meines Universums der Dinge, die ich verstehe.

Ich schätze hingegen, was ich nicht verstehe. Andere Menschen zum Beispiel, vor allem diejenigen, die mir nahe stehen.

Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Manche Menschen scheinen bestrebt zu sein, in einer Welt zu leben, die sie verstehen. In der sie ein Maß an Verständnis erreicht haben, mit dem sie zufrieden sind. Diese Welt verteidigen sie auch. Und obwohl ich die Annehmlichkeiten sehe, die das haben kann (zum Beispiel gibt es viel weniger Zweifel), beneide ich diese Menschen nicht. Ich bin ein Suchender, ein Forscher, der wissenschaftliche Werkzeuge und Methoden einsetzt, um besser zu verstehen.

Die Dinge formen das Denken und das Denken formt die Dinge, dieser Loop treibt uns Menschen voran.

Next page