Der Mythos vom Low Attention Span

Ungefähr im Jahr 2003 habe ich es auf einer Konferenz das erste mal gehört – die Nutzer des Internets würde an einer seltsamen Krankheit leiden. Während einer Podiumsdiskussion in Amsterdam fragte ein Experte ob die Internet-User nicht einfach alle einen Low-Attention-Span hätten. Die Zuhörer schienen die Frage zu mögen und das lag daran, dass die meisten im Publikum  Medienmacher der alten Medien waren und die hielten von den neuen, völlig unverständlichen Internetnutzern nicht viel. Von da an hörte man den Gedanken immer öfter. Immer mehr Experten stellten sich auf Bühnen und proklamierten, dass sich der moderne Mensch nicht mehr lange konzentrieren könne.

Die einfache Formel  dass alles einfach sein muss, damit es die neuen Mediennutzer auch fressen wurde so oft wiederholt, bis es alle in der Branche verinnerlicht hatten. Über mehr als eine Dekade werden nun schon die Inhalte in den Medien (nicht nur im Internet!) auf diesen Typus des unkonzentrierten Konsumenten zugeschnitten. Die Inhalte, wurden kürzer, prägnanter und Journalisten, Politiker und später sogar Fachleute genierten sich nicht, komplexe Sachverhalte völlig zu verstümmeln – vorgeblich der besseren Verständlichkeit dienend.

Mittlerweile glauben Millionen von Menschen simplifizierenden Erklärungen. Sie fühlen sich informiert und wissend, sind gegenüber komplexeren Gedanken grundsätzlich skeptisch. Wieso sollte man etwas kompliziert sagen, wenn man es auch einfach ausdrücken kann? Die Menschen wurden über die Jahre immer mehr konditioniert, das Einfache zu bevorzugen und das Komplizierte abzutun.

Als ich damals das Argument vom Short-Attention-Span zum ersten mal hörte, fühlte ich mich unwohl. Doch es sollte Jahre dauern, bis ich in der Lage war, in Worten auszudrücken, woher dieses Unwohlsein stammte. Die Beobachtung war falsch und der Grund ist ganz einfach:

Wenn eine Person einen ganzen Abend lang kurze YouTube-Clips ansieht, hat sie dann einen Short-Attention-Span? Mit Sicherheit nicht, im Gegenteil. Sie schenkt einer Übung stundenlange Aufmerksamkeit. Das Argument war, dass die einzelnen Erzähleinheiten im Internet nur kurz waren. Es war eine richtige Beobachtung aber der falsche Schluss. Tatsächlich waren die Einheiten kurz doch es lag vorranging and der  begrenzten Bandbreite des damaligen Internets. Downloadgeschnindigkeit, Traffic und Speicherplatz, waren limitierte Ressourcen. Nichtsdestotrotz war das Argument schon zu seiner Zeit blödsinnig. Warum sollte die Aufmerksamkeit eines Menschen geringer sein, der sich 90 Minuten mit YouTube beschäftigt, als bei jemandem, der einen 90 minütigen, linearen Film ansieht? Ein Film besteht auch aus verschiedensten Szenen, Gedankensprüngen und assoziativen Verbindungen. YouTube auch. Es ist in der Hinsicht sogar um einiges Anspruchsvoller.

Die Annahme, der moderne Medienkonsument wolle kurze und knackige Informationen auf Kosten von Tiefe und Differenziertheit wurde im Laufe der Zeit so etwas wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die Medieninhalte wurden immer oberflächlicher, und dadurch wurden tatsächlich viele Menschen zu Oberflächlichkeit erzogen.

Warum ist diese Frage immer noch von Bedeutung?
Eigentlich könnte man sagen, es is doch egal, was zuerst war, der oberflächliche Mensch oder die oberflächliche Kommunikation. Denn heute seien Millionen von Menschen wenig komplex im Denken und für diese Menschen sei die oberflächliche Kommunikation genau richtig.

Medienunternehmen gehen davon aus, dass der Mediennutzer komplizierte Inhalte scheut, wie der Teufel das Weihwasser. Man blickt auf Statistiken und zieht Klickzahlen zu rate. Doch auf die Knickzahlen zu starren ist wie in die Sonne zu schauen – man wird blind für alles was sonst noch herum ist. Und so übersehen die Medienmacher etwas grundsätzliches. Die Klicks werden von denen generiert, die sich an die Konventionen des Oberflächlichen angepasst haben. Die anderen klicken nicht, oder dort, wo es die Mainstream Medienmacher nicht hinsehen.

Sam Harris ist Philosoph, Neurowissenschaftler und Podcaster. In seinen Podcasts macht er vieles nach allen Regeln der Kunst falsch. Die Gespräche, die er führt, sind ausufernd, kompliziert, er überlegt sich nicht, was das Publikum hören will, seine Themen entsprechen seinen eigenen Vorlieben. Vor kurzem führte er ein Interview mit einem Physiker, in der Einleitung sagte Sam Harris, Studenten der Mathematik hätten sicherlich ihre Freude daran, allen anderen seiner Zuhörer empfahl er, sich den Podcast zwei mal anzuhören. Der Podcast dauerte mehr als 1 ½ Stunden.

Das grundsätzlich neue des Internets ist, dass es annähernd unendlich tief ist, dass es anders als bei früheren Medien wie Radio, Fernsehen, Film, Zeitung oder Büchern keine zeitlichen Beschränkungen gibt. Milliarden von Menschen haben Zugang und immer mehr Menschen lernen, durch die Oberflächlichkeit hinabzutauchen.

Sam Harris erstellt seine Podcasts mit einfachsten technischen Mitteln. Seine Gesprächspartner sind Koryphäen in den verschiedensten Feldern, sie kommen gerne zu ihm, weil er ihnen die Zeit gibt, in die Tiefe zu gehen und keine blödsinnigen Vereinfachungen fordert.

Sam Harris erreicht mit jedem seiner Podcasts ca. 2 Million Hirne, unter ihnen die besten Hirne der Welt .

END OF TV

Warum das Fernsehen dem Tod geweiht ist – und wie es gerettet werden kann.

“Facebook first!” ist die Parole auf den Fluren der Fernsehsender.
Es ist kurios. Vor 20 Jahren, als es langsam losging mit dem Internet, da haben einen die Herren des Fernsehens nicht mal mit dem Arsch angeschaut, wenn man laut über die neuen Arten des Erzählers nachdachte, die der Computer möglich machte.

Heute tanzt das Fernsehen nach der Pfeife des Internets. Und das heißt, nach der Pfeife der großen im Internet: Facebook, Twitter, Instagram und Konsorten. Damit verhält sich das Fernsehen ganz so, wie es das Internet nie getan hat: Das Internet hat sich nie darum gekümmert, wie man es im Fernsehen macht, oder in den Zeitungen, im Kino oder im Radio.

Das Internet hat sich auf seine Stärken konzentriert, nicht auf seine Schwächen. So hat es seine Stärken (die anfangs noch ganz schwach waren) langsam aufgebaut. Damit ist das Internet groß und mächtig geworden.

Ganz anders verhält sich nun das Fernsehen: Es will im Internet bestehen und dabei stören die eigenen Stärken oft nur – sie werden ignoriert und verkümmern. Das ist ganz so, als würde man sich einen Arm abhacken, weil man nicht durch eine Tür passt.

Ein Beispiel: Die Nachrichten begeben sich in ein Wettrennen, wer Breaking News als erstes vermeldet. Und wie bei der Geschichte vom Hasen und Igel hat das Fernsehen das Rennen schon verloren, noch bevor es beginnt: Wenn irgendwo irgendwas wichtiges passiert, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass mindestens einer der Umstehenden ein Handy hat, ein Foto macht und es auf Twitter oder Facebook postet. Damit hat zwar noch niemand etwas vom Geschehen mitbekommen, aber wenn später die Leute (vielleicht sogar alarmiert vom Fernsehen) auf Twitter nachsehen, ist die Meldung schon da.

Twitter & Facebook sind immer die ersten, so wie der Igel immer schon da ist.

Wer in der Nachrichtenredaktion eines Fernsehsenders arbeitet, kann dieses Schauspiel bei jedem neuen Terroranschlag (die derzeit offenbar in Mode sind) miterleben.

Und während all die klugen Menschen, die in der Redaktion arbeiten, in wilder Geschäftigkeit nach Bildern und Wortfetzen suchen, um den Bildschirm zu füllen – vergessen sie das, was sie eigentlich am besten könnten:
Das Nachdenken. Das Reflektieren. Das Einordnen.

Und das könnte dem Zuschauer tatsächlich helfen. Denn jedesmal, wenn ein Unglück passiert, geht im Internet das große Geschnatter los. Da wird um die Wette spekuliert und gemutmaßt, wird das ganz große Disaster prognostiziert. Die Institution des Fernsehens, könnte helfen, einzuordnen und zu verstehen. Das Fernsehen könnte der Gesellschaft dienen, indem es deeskaliert, statt den Menschen noch mehr Angst zu machen.

Warum könnte das Fernsehen, was das Internet nicht kann?

Das Fernsehen ist viel besser kuratiert, als das Internet. Es ist eben nicht jede Stimme gleich laut. In einem solchen Fall, wäre es wichtig, dass die Worte der Klugen und Bedachten lauter wären, als derjenigen, die nur daherschwätzen.

Eine der größten Kräfte des Fernsehens ist nach wie vor seine Aura. Wenn das Fernsehen fragt, äussern sich die Klügsten und Besten. Das Fernsehen führt Listen, die über Jahre, vielleicht Jahrzehnte gepflegt wurden, Netzwerke von handverlesenen Stimmen, die es bei Bedarf aktivieren kann. Oder könnte. Denn dazu bleibt im Rennen um die Aufmerksamkeit oft keine Zeit mehr.

Und so wird im Fernsehen geplappert wie im Internet – wird im Fernsehen berichtet, was im Internet kursiert. Da ist es kein Wunder, dass sich die Menschen immer mehr vom Fernsehen abwenden.

Das Fernsehen bemüht sich, immer mehr so zu sein, wie das Internet und verliert sich selbst dabei. Und so wird es zunehmend irrelevant.

Ganz so wie der Hase im grimmschen Märchen, der das Rennen, das er nicht gewinnen kann, so lange läuft, bis er tot umfällt.

 

Etwas mehr von Unendlich ist immer noch fast nichts

Die Leute sagen, dass die Welt komplizierter geworden ist. Und sie sagen damit, dass die Welt früher weniger kompliziert war. Dass die Welt einfacher zu verstehen war, als wir kein Internet, keine Radioteleskope, keine Teilchenbeschleuniger hatten. Früher, sei die Welt überschaubar gewesen.

Das glaube ich nicht. Nun kann man sich mit niemandem unterhalten, der vor 1.000 oder 10.000 Jahren lebt, und so betreten wir mit der Frage, ob die Welt früher einfacher war, das Land der Mutmassungen.

Sicherlich, das Wissen, das die Menschheit über die Welt gesammelt hat, war noch nie so einfach für jeden einzelnen erreichbar. Doch das, was sich jeder davon in den Kopf tun kann ist begrenzt. Es ist begrenzt, durch die Kapazität jederfraus menschlichen Hirns.

Das menschlichen Hirn hat sich in den letzten 200.000 Jahren nicht verändert. Natürlich nehmen wir an, dass wir viel mehr wissen, als unsere Vorfahren in der Savanne. Und wir stellen uns vor, wie ein Jäger und Sammler per Zeitreise in eine unserer modernen Großstädte gelangt und beeindruckt von all diesen Wundern anerkennen müsste, was wir alles wissen und was er alles nicht weiß.

Verloren wären auch moderne Großstadtbewohner, wenn sie in der Savanne der Jäger und Sammler landen würde. Ab und an kommt es tatsächlich vor, dass sich moderne Menschen in ursprünglichen Territorien verlieren. Zum Beispiel in Form von Touristen, die sich immer wieder mal in einem Urwald verlaufen. Wenn sie dann nach 14 Tagen wieder auftauchen sind sie derart abgemagert, dass man sie erst mühsam im Krankenhaus aufgepäppelt muss, bevor sie von Talkshow zu Talkshow gereicht werden können.

Der moderne Mensch mit all seinem Wissen verhungert da, wo der Urmenschen ein komfortables Leben führte. Vermutlich, weil der Urmensch nicht so viel unsinniges Zeug im Kopf mit sich herum trug. Der Historiker Yuval Noah Harari argumentiert, dass der Urmensch dabei auch gesünder und glücklicher durchs Leben lief, als unsereins.

Das, was es über die Welt zu wissen gibt, ist vermutlich unendlich. Und das, was wir tatsächlich wissen, ist nur eine Winzigkeit. Wie ein Korken, der auf einem Ozean schwimmt. Der Korken ist unser Wissen von der Welt, der Ozean, was wir nicht wissen. Vielleicht ist der Korken tatsächlich über die letzten 200.000 Jahre größer geworden. Vielleicht ist aus dem Korken ein Schiff geworden, beladen mit Teleskopen, Teilchenbeschleunigern und Funktelefonen. Vielleicht wurde aus dem Korken das größte Schiff, dass die Menschheit aufbieten kann. Doch dieses Schiff schwimmt wie ein Korken auf einem Ozean.

Die Gute Geschichte

Auch ich liebe das Geschichtenerzählen, das Fabulieren, das die Welt in Worte fasst: Aber ich misstraue der guten Geschichte, denn ich weiß, wie Geschichten gebaut sind. Wenn ich eine gute Geschichte höre, spüre ich ihre Konstruiertheit. Ob der Autor sie bewusst plant oder es nur geschehen lässt, die gute Geschichte erzählt ihre eigene Wahrheit. Die Geschichte fesselt den Betrachter, fixiert seinen Kopf und lässt ihn aus einem festen Blickwinkel auf das zu Beschreibende schauen. Die fesselnde Geschichte reisst den Betrachter mit, plappert ihm dabei permanent ins Ohr und lässt ihm keine Sekunde, sich eigene Gedanken, sich selbst ein Bild zu machen.

Kinos sind abgedunkelte und schallgedämpfte Räume mit bequemen Sesseln. Das Licht im Auge des Betrachters ist das Licht der Leinwand. Alle Geräusche im Ohr des Betrachters sind Teil des Films. Auge und Ohr sind dem Hirn am nächsten. Die Sessel sind gepolstert, nichts soll den Betrachter drücken, kein Sinneseindruck stören, der Film verlangt ungeteilte Aufmerksamkeit. Der Betrachter wird, wie in Watte gepackt, in seinen Sessel gesteckt, sein Kopf ist fixiert, die Augen und Ohren weit offen. Dem Betrachter wird die Geschichte ins Gehirn gedroschen. Er ist dem wehrlos ausgeliefert. Man sagt, die Menschen wollen das so, dass ihre Hirne kalt gestellt, aufs brutalste missbraucht werden.

Ich will es nicht mehr. Ich will nicht mehr gefesselt sein. Auch nicht von einem Film und nicht von einer guten Geschichte. Ich möchte Geschichten schaffen, die dem Zuhörer nicht vorgeben, wie er die Welt zu nehmen hat. Denn es gibt keine Wahrheit und wir wissen, dass jeder Beobachter einer Situation die Situation verändert, dass jeder andere Beobachter eine andere Situation vorfinden würde, die genauso richtig oder wahr ist. Eine Situation festschreiben zu wollen, empfinde ich als großes Unrecht, als etwas das man tunlichst vermeiden sollte.

Warum aber sind fast alle Autoren auf der Jagd nach der »guten Geschichte«? »Weil den Menschen klare Aussagen, in einer immer chaotischeren Welt, Halt geben«, sagen die Leute. Ich bin zu einer anderen Antwort gekommen und sie lautet: »Weil die Leute das so gewohnt sind.« Die Leute sind lineare Geschichten gewohnt, weil sie mit linearen Geschichten aufgewachsen sind. Und lineares Erzählen meint, dass die Abfolge der Elemente der Erzählung immer die gleiche ist.

EXKURS:

Die mündliche Erzählung

Wer eine Geschichte verbal erzählt, schafft bei jedem Erzählen eine Variation. Es ist die gleiche Geschichte, doch die Reihenfolge der Elemente der Geschichte variiert. Die Geschichte ist relativ flexibel. Der Korridor, in dem die Geschichte ihre Wahrheit entwickelt, kann relativ breit sein.

Die schriftliche Erzählung:

Wenn eine Vater dem Sohn aus einem Buch vorliest, ist zwar die Reihenfolge der Elemente bei jedem Lesen gleich, das heißt, die Geschichte ist nicht mehr flexibel. Doch Betonung und Pausen variieren, die Geschichte kann unterbrochen und die vorangegangenen Elemente durchdacht werden. Der Korridor, in dem sich die Realität der Geschichte bewegt, ist weniger breit als bei der mündlichen Erzählung aber er ist in der Tendenz breiter als beim linearen Film.

Die filmische Erzählung:

Ein Film ist starr. Er ist bei jedem Ansehen gleich. Auf den Frame genau gleich. Es gibt keine Variationen. Der Autor des Films trägt alle Verantwortung für das, was der Film ist. Viel mehr, als der Erfinder einer Geschichte, die mündlich erzählt wird und auch mehr als der Autor einer Geschichte, die in einem Buch steht. Der Autor des Films denkt vor, der Korridor der Interpretationen des Films wird von ihm penibel abgesteckt. Dem Betrachter bleiben nur Pausen zu eigenem Denken, wenn der Autor sie ihm lässt. Pausen, in denen der Zuschauer Zeit hat, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Der Betrachter des Films wird sogleich wieder mitgerissen von der Flut der Bilder. Er betrachtet die Erzählung gleichsam wie aus einem fahrendem Zug heraus. Der Autor hat die Landschaft gebaut. Der Zug gibt die Geschwindigkeit vor.

Warum ist Film so toll?

Anders, als es oft gesagt wird, bin ich überzeugt, dass der Film seine Kraft nicht daraus schöpft, dass er so hyperlinear ist. Es ist die Verbindung von Bewegtbild und Ton, die solch große Faszination auf den Menschen ausübt. Und Bewegtbild und Ton konnte man vor Computern nur bekommen, wenn man die Hyperlinearität in Kauf nahm. Film war 100 Jahre lang: ein Bild ans andere geklebt und auf eine Spule aufgewickelt. Es ging technisch nicht anders. Diese technische Beschränkung, verbunden mit der großen Kraft und Schönheit des bewegten Bildes, haben zu zwei Dingen geführt:

1.

Unglaublich viel Energie ist in die Erforschung und Entwicklung von hyperlinearen Erzählungen geflossen. Man spricht nicht von ungefähr von Industrie: Filmindustrie, Hollywoodindustrie.

Die filmische Erzählung wurde über die Zeit immer mehr perfektioniert. Sie ist nun (fast) perfekt.

2.

Die Zuschauer, die Konsumenten der Filme haben 120 Jahre lang gelernt, die Sprache des Films zu lesen und zu verstehen. Das Denken der Menschen hat sich dem angepasst. Die Menschen sehen ihre Leben vorwiegend linear. Doch ich möchte behaupten: diese Sprache ist limitiert, und sie krankt daran, zur Monokausalität zu tendieren. Das hat durchaus auch positive Aspekte: Beispiel FCKW. 1985 wurde das Ozonloch entdeckt, das chemische Treibgas FCKW wurde als Hauptverursacher erkannt und binnen weniger Jahre konnten Menschen auf der ganzen Welt davon überzeugt werden, FCKW weitestgehend zu verbieten.

»Wie, ich benutze mein Deospray und das verursacht ein Loch in der Ozonschicht über den Polkappen der Erde?«

»Ja.«

Ich bin mir sicher, eine Menschheit, die sich nicht so intensiv im linear kausalen Denken geübt hätte (mit dem Ansehen linearer Filme) hätte das schlichtweg nicht geglaubt. Bereits 5 Jahre nach Entdeckung des Ozonlochs wurde beschlossen, FCKW zu verbieten. Das ist bemerkenswert. Doch FCKW ist ein Spezialfall. Es handelt sich um einen Stoff, der in der Atmosphäre nach oben wandert und auf dem Weg dorthin mit so gut wie nichts reagiert. Bis er dann, in den obersten Atmosphärenschichten angelangt, mit Ozon reagiert und dieses aufspaltet. Die meisten chemischen Stoffe reagieren die ganze Zeit mit irgendwas. Dasselbe gilt für biologische Prozesse, für menschliche Interaktionen. Kausal, lineares Denken bringt einen da nicht weit oder allenfalls auf den Holzweg. Der amerikanische Präsident George W. Bush konnte sein Volk (und weite Teile der Welt) überzeugen, im Irak eine »smoking gun« gefunden zu haben, die »weapons of mass destruction« (WMD), die, so die Logik, in der Zukunft zu einem großen Unglück führen würden, das man schon im Heute bekämpfen müsse. Ein Krieg wurde begonnen. Diese Waffen wurden schlussendlich nie gefunden, aber das Argument fiel auf den fruchtbaren Boden des linear kausalen Denkens. Eine Gesellschaft, die nicht linear kausal denkt, wäre gegen die Argumente George W. Bushs immun gewesen. Die Welt wäre heute vermutlich eine friedvollere. Das – vom linearen Film populär gemachte – linear kausale Denken ist also nicht grundsätzlich falsch. Es ist nur auch nicht grundsätzlich richtig.

»Was könnte dieses Denken ergänzen?« – »Flexibles multikausales Denken.«

– »Was ist das?«

Anders als beim linear, kausalen Denken, bei dem ein Ding zum nächsten führt, das dann wieder zum nächsten führt (und so weiter), ist beim multikausalen Denken ein Ding mit mehreren verbunden, das wieder mit mehreren verbunden ist (und so weiter). Ein Element (eine Aussage oder Überlegung) führt dann also nicht zu immer nur einem nächsten Element sondern, hat Verbindung zu mehrere nächsten Elementen. Während im linear kausalen Denken ein »then« zwischen den Elementen steht:

Element 72 »then« Element 23 »then« Element 42

Dagegen wäre die Formel bei multilinearen Denken (in seiner simpelsten Form):

Element 72 »if x then« Element 23 »else« Element 42

Schon vor Aufkommen der Computer wurden Erzählungen nach der obigen Formel versucht, allerdings mit mäßigem Erfolg. Es entstanden multilineare Geschichten. Sie trieben die Autoren in den Wahnsinn und eigneten sich allenfalls für einfache Kinderbücher nach dem Prinzip der »Choose Your Own Adventure«-Story. Das Problem ist, dass linear, kausal denken wollende Autoren auch multikausale Stories durchdenken wollen (siehe: Verantwortung des Autors) und das ist – mit zunehmender Komplexität der Geschichte – unmöglich. Der Trick um dieses Problem zu lösen ist radikal einfach: Der Autor muss das Durchdenken aufgeben. Er muss aufhören die Geschichte vorzudenken und die Angst ablegen, Dinge zu sagen, die er nicht sagen wollte (und aus Erfahrung möchte ich hinzufügen: es passiert ohnehin nicht).

Der nächste Abschnitt ist ein wenig kompliziert aber sehr wichtig. Er erklärt wie aus einer multilinearen eine flexible Geschichte wird. Ausgangspunkt ist die oben bereits beschriebene Formel:

Element 72 »if x then« Element 23 »else« Element 42

Interessant wird die Sache dann, wenn zum einen die Variable »x« flexibel belegt wird und die Verbindung nicht vom Autor fest zu einem definieren Element (z.B. »Element 23«) führt, sondern zu weiteren Variablen, die für weitere möglichen Elemente stehen.

In anderen Worten: Der Autor legt nicht die Verbindungen fest, wie die Elemente der Geschichte miteinander in Verbindung stehen, er legt die Regeln fest, wie die Verbindungen entstehen. (Es fällt mir schwer, ein einfaches Bild zu finden, das als Metapher dienen könnte, um diesen Vorgang zu beschreiben.)

Der Autor kann damit sehr einfach eine Struktur der Elemente schaffen, die nichts macht, was er nicht wollte, aber die viel komplexer ist, als das er sie überblicken könnte. Der Autor kann und will die Erzählung gar nicht mehr vordenken. Es wird damit eine Erzählweise möglich, die der mündlichen Erzählung recht nahe kommt, nun aber filmisch funktioniert, nicht die Anwesenheit eines Erzählers in Persona erfordert und einfach vervielfältigt werden kann. Der Autor ist so in der Lage, Geschichten zu erzählen, ohne sie vordenken zu müssen. Er kann entwerfen, ohne genau bestimmen zu müssen, was wann wo passiert. Und er ist auch nicht mehr gezwungen, Verantwortung für jeden Frame, für jede Assoziation zu übernehmen.

Korsakow funktioniert so und ich mache mit diesem Prinzip seit 15 Jahren Filme (Korsakow-Filme) und Veranstaltungen. Das Publikum findet sie oft anstrengend und ich habe einige Jahre gebraucht, um zu verstehen, was die Leute mit “anstrengend” meinen. Die Leute sagen, sie finden Korsakow-Filme anstrengend, weil sie nicht verstehen, was ihnen gesagt werden soll. Weil sie, wie sie sagen, die Message nicht sehen. Dieses Problem tauchte schon sehr früh auf. 2001, kurz nachdem ich meinen ersten Korsakow-Film Das Korsakow Syndrom – ein nichtlinearer Film über Alkohol als Abschlussarbeit an der Universität der Künste, Berlin fertiggestellt hatte, hatte ich die Ehre, meine Projekt auf einer Konferenz vor Medientheoretikern vorzustellen. Die standen der ganzen Sache naturgemäß kritisch gegenüber. Besonders kritisch war der Professor, der meinen Vortrag moderierte. Mit folgender, an und für sich völlig banalen Frage schoss er mich schließlich ab: »Was ist die Message von Ihrem Film?« – Darauf wusste ich keine Antwort. Die richtige Antwort fiel mir erst sehr viel später ein: »Wenn ich eine Message hätte, würde ich sie hinschreiben. Dann müsste ich keinen nichtlinearen Film machen.« Und unter uns gesagt, es ist auch ein Haufen Arbeit, einen Film zu machen.

Es ist auch Arbeit, einen Film anzusehen. Wenn ich dann als Zuseher am Ende nur eine Message bekomme, die ich mir in 5 Sätzen hätte lesen können – dann habe ich 89 Minuten Lebenszeit verschwendet. O.k. ich übertreibe. Und der Einwand ist wahr, dass lineare Filme auch viel mehr sein können, als eine einfache Message. Dass es große Filmemacher gibt, die es schaffen, Filme zu machen, die ein Nachdenken über die Welt sind, die am Ende nicht auf einen Satz hinauslaufen. Ja, richtig aber es bedarf eines großen Meisters der es schafft, die Welt (oder Teile der Welt) mit dem Werkzeug Film einzufangen. Die Welt mit Film darzustellen, das ist, als wolle man mit einem Schmetterlingsnetz einen Elefanten fangen. Manchmal klappt es – allerdings selten.

Zum Glück gibt es Computer. Anders als beim Medium Film ist beim Computer nicht ein Bild ans andere geklebt. Bilder wie Töne sind Daten, die auf einer Festplatte gespeichert sind. Wie genau weiß ich nicht, und es muss auch nicht weiter interessieren. Der Schlaumeier sagt, dass die Bilder und Töne dann nicht geordnet sind. Der Schlaumeier in mir erwidert, dass die Daten total geordnet sind. Sonst würde sie der Computer ja selbst nicht mehr finden. Computer sind Regel- und Ordnungsmaschinen, zahlenverliebte Pedanten, die, weil sie so genau sind, Ordnungen schaffen können die über ein einfaches

Element 72 »then« Element 23 »then« Element 42

hinausgehen. Seit einigen Jahren können Computer Video – als es damit losging, habe ich mich wahnsinnig gefreut. Weil damit das, was ich so sehr liebe (Bewegtbild und Ton) nichtlinear und flexibel möglich wurde und man erwarten durfte, dass sich die talentiertesten Autoren und Geschichtenerzähler auf diesen neuen Möglichkeiten stürzen würden und das Tor zu einem neuen Universum nun endlich erzählbarer Geschichten aufgehen würde. Das Bild, das wir uns von der Welt machen, würde sich erweitern, ein neues Denken würde möglich. Dachte ich. Das ist nicht passiert. Und ich bin noch immer fassungslos darüber. Oder viel mehr: Ich werde immer fassungsloser. Vielleicht dauert es noch ein Weile bis die Autoren gelernt haben, die neuen Möglichkeiten zu sehen. Aber es sind ja nun schon ein paar Jahre vergangen, seit Computer Bewegtbild können. Keine neuen Erzählformen weit und breit. Und schlimmer noch, ich habe das Gefühl, dass die Erzählungen heutzutage sogar noch viel monodimensionaler werden, als sie es früher waren. Vielleicht liegt es daran, dass man sich nun erst im multilinearen Erzählen austoben muss (multilineares Erzählen: ein Element kann zu mehr als einem weiteren Element führen, der Autor hat aber alles genau geplant). Aber was mich stutzig macht – das alles hat man doch schon in der Vorcomputerzeit ausprobiert und weiß, dass es die Welt eher verflacht; siehe »Choose Your Own Adventure«. Traurig stimmt mich auch eine weitere Beobachtung und vielleicht gibt es da einen Zusammenhang:

Wenn die Leute Früher – und mit früher meine ich, vor 10 Jahren – etwas nicht auf Anhieb verstanden haben, fanden sie es erst mal interessant. Das ist verständlich, denn von etwas, das man nicht versteht, kann man womöglich etwas Neues lernen. Wenn man es dann schließlich versteht, hat man etwas gewonnen und die eigene Welt ist größer geworden.

Heute wollen die Leute alles sofort verstehen. Und wenn sie etwas nicht verstehen, wollen sie es erklärt bekommen. In einer Minute und 30 Sekunden. Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit einer Fernsehredakteurin:

Fernsehredakteurin:
»Ich verstehe nicht, was Du damit sagen willst.«

Ich:
»Es ist Komplex.«

Fernsehredakteurin:
»Dann erkläre es so, dass man es in 1:30 versteht.«

Ich:
»Das kann man nicht in 1:30 erklären.«

Fernsehredakteurin:
»Man kann die ganze Welt in 1:30 erklären.«

Ich:
»In einer solchen Welt, will ich nicht leben.«

Die Leute sind immer weniger bereit, sich auf Experimente einzulassen. Nach dem Motto »I don‘t get it – I don‘t like it.« Auch die Kreativen werden immer weniger experimentierfreudig. Man sieht das nicht nur in der Art, wie Geschichten erzählt werden, sondern auch an der Krise des gedruckten Papiers oder an der Krise der Musikindustrie. Der Silicon Valley Unternehmer Jaron Lanier, ein Pionier der virtuellen Realität, beschreibt das in seinem Augen öffnenden Buch You Are Not a Gadget und er stellt eine interessante Verbindung zum Aufkommen der neuen Medien und dem Wegfallen der alten Medienstrukturen her. Das alte Modell, in dem für kulturelle Leistung direkt bezahlt wurde (22 Mark für eine Schallplatte) ist zusammengebrochen. Kulturelle Inhalte (Texte, Musik, Filme) sind mehr oder minder frei im Netz verfügbar, was auch bedeutet, dass die Autoren dieser Werke dafür direkt keine Einnahmen mehr erzielen können. Autoren bleibt nur die ›Möglichkeit Masse zu machen‹, also so populär zu werden, um dann neben eigenen Inhalten Werbung schalten zu können, in der Hoffnung, damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Streben nach Massentauglichkeit ist keine gute Voraussetzung für Innovation. Massentauglichkeit erreicht man, indem man versucht, das bereits bekannte und beliebte weiterzuentwickeln und zu verbessern. Massentauglichkeit erreicht man nicht durch radikalen Umbruch, denn man will sein Publikum ja nicht vor den Kopf stoßen. Doch neue Musikrichtungen waren meist verstörend und Krach in den Ohren der Alten, ihre Erfinder waren vielleicht daran interessiert, einen Plattenvertrag zu bekommen, aber sie strebten nicht notwendigerweise nach Massentauglichkeit (zumindest nicht am Anfang einer neuen Bewegung). Wichtig war, in einer kleinen Gemeinde gleichgesinnter ernst genommen zu werden. Radikal Neues entsteht in Nischen und entgegen dem Mainstream und nicht in ihm. In einem Umfeld, in dem jeder populär sein will (sein muss) gibt es keine Revolution. Das ist der Grund, warum wir seit 10 Jahren nur noch Oldies im Radio hören (und wenn es keine Oldies sind, klingen sie so). Und darin liegt vermutlich auch der Grund, warum die Haltung von Autoren, Geschichten gegenüber, so verdammt konservativ geworden ist.

Mit Entsetzen sehe ich diese Tendenz, auch im nun populärer werdenden computerbasierten Narrationen (z.B. in den sogenannten Webdocs) immer klassischer zu erzählen – Anfang, Mitte, Ende. Den Zuschauern wird alles erklärt und am Ende wird dann »awareness« geschaffen; ganz so wie der Lehrer in der Schule. Das ist ganz weit weg vom Universum der bisher unerzählbaren Geschichten. Ich habe manchmal den Eindruck, dass zahlreiche Pioniere des computerbasierten Erzählens (die ja zum Teil nun auch schon seit über einem Jahrzehnt dabei sind) ganz heiß darauf sind, endlich so geile Geschichten erzählen zu können, wie im Hollywoodfilm. Doch ich vermute einen Denkfehler: Fesselnde Geschichten können in keinem Medium so gut erzählt werden, wie im Film. Der Glaube, dass es etwas bedeutenderes geben könnte, als eine fesselnde Geschichte, scheint den meisten abhanden gekommen zu sein. Vielleicht dauert es auch noch. Aber wie lange? Noch mal 10 Jahre würde ich nur ungern warten. Aber was kann ich schon tun? Ich hoffe, es dauert nicht noch 500 Jahre, bis die Menschen sich wieder so Geschichten erzählen, wie sie es früher schon einmal getan haben: Flexibel und offen.  


Dieser Text ist 2014 erschienen im Buch: “Der Dokumentarfilm ist tot, es lebe der Dokumentarfilm: Über die Zukunft des doumentarischen Arbeitens”, herausgegeben von Matthias Leitner, Sebastian Sorg und Daniel Sponsel .

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