Artivist und Exloratist Approach

Es ließen sich zwei Ansätze unterscheiden, interaktiven Dokumentarfilm zu machen: Artivist und Explorartist Approach (und der Raum dazwischen). Diese Begriffe sind meines Erachtens hilfreich für das Verständnis von generativen Systemen und insbesondere von Korsakow. Ein Artivist Approach lässt sich auch mit linearen Formaten realisieren, für einen Explorartist Approch eignen sich jedoch besonders sowohl nichtlineare als auch generative Formate, die eine Vielzahl von Perspektiven gleichberechtigt erzeugen. Korsakow ist z.B. ein solches Format. Korsakow ist nicht nur ein Format, es ist auch ein Werkzeug und so muss man also nicht nur lernen, wie es zu benutzen, sondern auch wie es zu “lesen” ist. Erst dann kann sich das Potential von Korsakow entfalten, jedweden Untersuchungsgegenstand multi-perspektivischer zu verstehen.

Dieser Text entspringt einem Einführungsvortrag, den ich im Frühjahr 2023 im Rahmen eines Kurses an der HSLU gehalten habe, in dem Studierende interaktive Dokumentarfilme mit der Korsakow-Software machen.

Wir haben letzte Woche bei unserem ersten Treffen (am 2. Mai 2023) 30 Minuten lang GELD.GR angeschaut. 30 Minuten waren genug Zeit, um an die Schmerzgrenze von GELD.GR zu gelangen. Das wurde in der Diskussion deutlich und sehr schön von einem Studenten ausgedrückt, der beschrieb, wie er GELD.GR nicht “mit einem Kaffee rücklehnend einfach so schauen” hätte können, bei GELD.GR müsse er “da sein”, “am Bildschirm sein”, und das eigene Hirn “aktiv” und damit anders einsetzen, als z.B. beim Ansehen von “normalen Filmen”. Bei “normalen Filmen” gehe es vor allen Dingen darum, zu verstehen, was der Autor einem durch das Werk mitteilen will.

Bei GELD.GR müsse man das Hirns “anders” einsetzen, zuerst um Entscheidungen zu treffen, welche Links auszuwählen sind, aber dann insbesondere um aus dem Gesehenen Sinn machen zu können. Um die unendlich erscheinenden Perspektive, wie es eine Studentin ausdrückte, zusammenzubringen, zusammen sehen und zusammen erfassen zu können.

Es wurde als “neu” und “gewöhnungsbedürftig” beschrieben, Medien nicht wie üblich “zu konsumieren”. Ein Student bemerkte: “Das ist cool, es fordert mich”.

Adrian Miles nennt dieses ‘gewöhnungsbedürftige’ Ding “problem of ‘uncertainty’” Miles, A. (2014) und “uncertainty” – “Ungewissheit” ist anstrengend und fordernd, oftmals frustrierend, weil man nicht weiß, was man mit dem Gesagten angefangen soll, “weil einem nicht gesagt wird, was man denken soll”, wie es einmal ein Zuschauer einer Korsakow-Show in München ausdrückte.

In GELD.GR wird einem viel weniger nahegelegt, wie man das Gesehene werten und einordnen solle, als man das von filmischen Medien gewohnt ist. Man fühle sich (vom Autor?) alleine gelassen, sich selbst überlassen. Die Vielzahl der in GELD.GR dargestellten Perspektiven wurde auch von einem Studenten als “verwirrend” beschrieben, ähnlich wohl wie wenn man auf einem Jahrmarkt in einem Spiegelkabinett unterschiedliche Perspektiven gleichzeitig sieht.

Ein Student sagte, man müsse sich erst in eine ungewohnte Rolle einfinden, eine aktive Rolle, eine Rolle, in der man nicht jemand sei, der “nur zuhört”, wie er sagte, man müsse “aktiv” sein und “erkunden”. Und da stellt sich die spannende Frage, was es mit dem Denken macht, wenn das Hirn mehr in einem Modus des Erkundens, statt des Zuhörens ist? Kommt man womöglich leichter in einen Modus des Hinterfragens vorgegebener Narrative? Und wie geht man dann damit um?

Die Beschäftigung mit GELD.GR, so eine Studentin, sei eine “komplett andere Art, mit einem Film zu interagieren”, das sei halt “eine andere Art” und sie sei auf diese andere Art “spannend” und “etwas neues”.

Der Student sagte “ich habe das eine halbe Stunde geschaut und dann habe ich aufstehen und kurz laufen müssen”, er habe gemerkt, “ok, das war jetzt für mich Arbeit und das bin ich nicht gewohnt von Film”. Film würde er normalerweise “nur analysieren”, so hat er es ausgedrückt.

Diese Beschreibung erinnert mich an das, was Adrien Miles sagte, als er von Franziska Weidle für ihre Doktorarbeit befragt wurde, wie er denn Korsakow-Filme anschaue. Er beschrieb, wie er diese Art von offenen Korsakow-Filmen stückweise zu sich nehme. Idealerweise jeden Tag ein paar Minuten, um sich dann wieder anderen Tätigkeiten zuzuwenden. Manche mögen dieses Phänomen als mangelnde Aufmerksamkeit, als “attention deficit” auf Seiten des Betrachters beschreiben oder als Fehler des Films, der so langweilig ist, dass er die Aufmerksamkeit des Betrachters nicht halten kann. Ich sehe das allerdings anders.

Was den Betrachter betrifft: Es ist eine enorme Aufmerksamkeit des Betrachters, Themenkomplexe stückweise zu betrachten mit einer Zeitspanne groß genug um auch dem Unterbewussten zu erlauben, sich in den Denkprozess einzubringen, mitzureflektieren, mitzudenken. Es gibt Wissenschaftler, die vermuten, dass das bewussten Denkens zum allergrößten Teil vom Unbewussten geprägt ist so der Psychologe Paul Bloom (Sam Harris #317 – What do we know about our minds, Conversation mit Paul Bloom).

Unbewusst oder “unconscious” (Bloom, 2023) ist der größte Teil des Nervensystems, des Systems, mit dem Lebewesen die Welt erfassen und verarbeiten. Bewusstes Denken ist laut Bloom nur der kleinste Teil davon.

Was den Film betrifft: Es scheint mir ein Feature und nicht ein Bug zu sein, dass Korsakow kein mitreißendes und sucht erzeugendes Potential erzeugt, das den Betrachter dran hält und ihm stattdessen ermöglicht die Aufmerksamkeit mit anderen Dingen abzulenken um dem Unterbewusstsein die Zeit zu geben sich einzubringen.

Eine der Studierenden nennt einen Korsakow-Film “eine Metapher der Realität, wie sie wirklich ist”, in der man niemals alles wissen könne, man brauche immer wieder Pausen, um zu reflektieren.

Wir haben über GELD.GR gesprochen, das ist eine Art, auf die man Korsakow-Filme machen kann. Es ist meine Art, Korsakow-Filme zu machen und es gibt noch eine andere Art.

Diese andere Art lässt sich als “artivist approach” beschreiben, einen Begriff, den die interaktive Dokumentar-Filme-Macherin Marta Fiolić benutzt, um ihr Vorgehen beim Machen ihrer Arbeiten zu beschreiben.

“Artivist” setzt sich aus “artist” und “activist” zusammen und beschreibt den Prozess des Machen als motiviert von einer konkreten Agenda, das von einem Problem ausgeht, auf das es hinzuweisen gilt und für das man Lösungen anbieten will. Der Film oder das Projekt hat eine Agenda, die mehr oder weniger bereits zu Beginn des Prozesses benannt werden kann.

Entsprechend dem “Artivist Approach” von Marta Fiolić würde ich den Ansatz von GELD.GR und fast allen meinen Projekten mit dem Begriff “Explorartist Approach” beschreiben, zusammengesetzt aus den Worten “explorer” und “artist”. Explorer kann mit Forschungsreisende:r übersetzt werden und als Forschungsreisende:r weiß man nicht, was man finden wird – und kann auch keine damit verbundene Agenda verfolgen.

Zusammenfassung:
Es gibt zwei Ansätze, Interaktive Dokumentarfilme mit Korsakow zu machen. Benennen lassen sich diese Ansätze mit “artivist” und “explorartist approach”.

Interaktive Dokumentarfilme tendieren generell dazu, anstrengend zu sein, weil sie eine andere Art des Denkens erfordern. Interaktive Dokumentarfilme, die einen Exploratrist Approach verfolgen, sind insbesondere für Nutzer enttäuschend, die mit einer Erwartungshaltung, etwas nicht nur gezeigt, sondern auch eingeordnet zu bekommen, an den Interaktiven Dokumentarfilm herantreten.

Die Stärken eines Interaktiven Dokumentarfilms ist generell die Offenheit mit der man an ein Thema herangehen kann, diese Offenheit ist beim Explorartist approach größer als beim Artivist approach, der Preis der dafür derzeit zu zahlen ist, ist, dass man damit ein von filmischer Erzählung geprägtes Publikum verunsichert.

Daher empfehle ich den Exploratist Approach denjenigen, die daran interessiert sind, ihre Meinung zu ändern, das gilt sowohl für diejenigen, die ein derartiges Projekt machen, als auch für diejenigen, die sich ein solches Projekt ansehen.

Denen, die eine Meinung (in der Regel ihre eigene) an andere weitergeben möchten empfehle ich den Artivist Approach, ich bin mir aber nicht sicher ob es dann überhaupt sinnvoll ist interaktiv vorzugehen, da das Interaktive zum einen, wie beschrieben, den Konsum des fertigen Projekts anstrengend macht und zum anderen den Betrachter in einen Modus des Hinterfragens bringt, die sich auch gegen Agenda bzw. die Message des Films richten kann.

Ich möchte es so formulieren:
Obschon man mit dem Werkzeug Korsakow artivistische Projekte (also solche mit klaren Haltung) konstruieren kann, sind derartige Projekte in gewisser Weise nicht korsakowisch, in dem Sinne, in dem Korsakow ursprünglich gedacht war. Die Entwicklung von Korsakow war von Anfang an der Versuch, ein Instrument zu schaffen, das es nahelegt, statt mit dem Werkzeug die Welt zu erzählen, die Welt durch das Werkzeug multiperspektivischer zu verstehen.

Korsakow ist kein Werkzeug, um die Welt zu erzählen, sondern um die Welt (zumindest mehr) für sich selbst sprechen lassen. Um zu verstehen, was einem die Welt durch dieses Instrument sagt, muss man allerdings erst “lesen” lernen, was die Welt durch das Instrument kommuniziert.

Jemanden, der nicht gelernt hat, durch ein Instrument zu lesen, kann mit dem Instrument nichts anfangen. So wie jemand, der nicht gelernt hat, eine Uhr zu lesen, mit einer Uhr nichts rechtes anfangen kann (außer, dass er sie womöglich hübsch findet, wie ein Schmuckstück).

Der allererste Schritt zu lernen, wie ein Instrument funktioniert, ist zunächst einmal, dass man hinschaut und das Werkzeug als solches überhaupt erkennt. Dann, dass man das Tool selbst einsetzt und lernt, wie man damit umgeht. Und erst dann lässt sich erlernen, wie man durch das Werkzeug hindurch die Welt anders und womöglich besser erfassen kann, so wie ich kürzlich einen Handwerker beobachtete der einen Hammer benutzte, um durch das Werkzeug festzustellen, aus welcher Art von Steinen eine Mauer gebaut war.

Die Form ist der eigentliche Inhalt

Wenn ich betrachte, wie meine Korsakow-filme rezipiert wurden, scheinen mir die Themen, die ich (und authors, mit denen ich kollaboriert habe) behandelt habe, die Geschichten, die ich erzählt habe – eher zweitrangig.

Über Korsakow sind Bücher (und viele Texte) geschrieben worden. Auch wenn immer wieder auf einzelne Werke, wie zum Beispiel das [LoveStoryProject] eingegangen wurde (wie z.B. im PhD von Sandra Gaudenzi), ging es nur selten um den “eigentlichen” Inhalt der Arbeiten.

Was ungewöhnlich zu sein scheint und besprochen wurde und wird ist die Form – die Form in der bestimmte Korsakow-filme gemacht sind und die eine Haltung zum Ausdruck bringen, wie sie in anderen Formen filmischen Erzählers scheinbar nicht so deutlich sichtbar wird. Es geht also um diese Form, die eine Haltung hervorzubringen scheint, zumindest bei authors, die sich auf diese Form einlassen. Nicht alle authors, die Korsakow nutzen, kommen gleichermassen bei dieser Haltung an, viele authors so meine Beobachtung “sperren” sich gegen die Form, mir kommt es vor als würden sie gegen die Form anarbeiten oder wie ich es früher ausgedrückt habe, Korsakow gegen den Strich bürsten.

Aus meiner Sicht scheitern derartige Projekte und auch Adrian Miles beschreibt dies, wenn er beschreibt, wie viele Leute Korsakow nicht richtig verstehen. Ich empfehle diesen Leuten linearere Formate zu benutzen und um Missverständnisse vorzubeugen möchte ich an dieser Stelle sagen, dass dies auch aus meiner Sicht völlig o.k. ist. Die Haltung, die Korsakow hervorbringen kann ist nicht “die richtige” sie ist nur eine andere. Beide Haltungen haben meines Erachtens nach Vor- und Nachteile.

Die Form ist – zumindest bei Korsakow – ein wesentlicher Inhalt und ich frage mich, ob das nicht für auch für andere Arten von Projekten gilt. Ob also auch z.B. die Themen von linearen Filmen vielleicht gar nicht so wichtig wie allgemein angenommen sind, ob vielleicht die Form in der in linearen Filmen erzählt wird grösseren Einfluss auf das Denken derjenigen hat, die den Film machen und die den Film rezipieren. Ich wähle hier bewusst den grammatikalischen Singular linearer Film obschon ich mir bewusst bin, dass es viele Formen von linearen Filmen gibt, die eine Bandbreite unterschiedlichster Haltungen hervorbringen können. Mein Argument ist, dass es beim linearen Film keine unendliche Bandbreite von möglichen Haltungen gibt, ebensowenig wie bei Korsakow, die sich zum Teil überschneiden aber zu einem gewissen Teil eben auch nicht.


Das wäre dann der Teil, der eine Haltung “afforded“, die der lineare Film eben nicht möglich macht, oder zumindest nicht nahelegt. Dieser Bereich interessiert mich – brennend.

Denn die Haltung scheint mir den Blick zu formen, den man auf etwas einnehmen kann.

The form is the real content

When I consider how my Korsakow films have been received, it seems to me that the subjects I1 have dealt with – the “stories I have told” – are rather secondary.

Books (and many texts) have been written about Korsakow. Although individual works, such as [The LoveStoryProject], have been repeatedly discussed (as in Sandra Gaudenzi’s PhD), the “actual” content of the works has rarely been at issue.

What seems to be unusual, and has been and is being discussed, is the form – the form in which certain Korsakow films are made, expressing an attitude (Haltung) not seemingly so evident in other forms of cinematic storytelling. It is, then, this form that seems to produce an attitude, at least in authors who engage with it. Not all authors who use Korsakow arrive equally at this attitude; many authors, according to my observation, “resist” the form; it seems to me that they work against the form, or as I put it earlier, brush Korsakow against the grain.

From my point of view, such projects fail and Adrian Miles also describes this when he talks about how many people don’t get Korsakow properly. I recommend to these people to use more linear formats and to avoid misunderstandings I would like to say here that this is also completely o.k. from my point of view. The attitude Korsakow affords is not “the right one” it is just a different one. In my opinion, both attitudes have advantages and disadvantages.

The form seems to be – at least with Korsakow – an essential content and I wonder if this is not true for other kinds of projects as well. Whether, for example, the themes of linear films are perhaps not as important as generally assumed, whether perhaps the form in which linear films are told has a greater influence on the thinking of those who make the film and those who receive the film. I deliberately choose the grammatical singular (“linear film”) here, although I am aware that there are many forms of linear film that can produce a wide range of different attitudes. My argument is that linear film has a range of possible attitudes, as does Korsakow, some of which overlap but some of which do not.


This part that does not overlap would be the part that afforded an attitude that linear film does not. This area interests me – fervently.

Because the attitude seems to me to form the view that one can take on something.


1 and authors with whom I collaborated

Das Zeitkonzept der Zelle

Wir verstehen Zeit in der Regel als linearen Ablauf (ich verstehe auch zirkuläre Zeitvorstellungen sind in diesem Sinne als linear, als Gerade, die zu einem Kreis gebogen ist). Wie ließe sich Zeit anders vorstellen? Die These dieses Textes ist, dass unser Zeitempfinden durch die Art und Beschaffenheit unsere Körper bedingt ist, eines Körpers, der ein Verdauungssystem besitzt, in dem die Stoffe die zum Leben gebraucht werden primär auf einer Seite aufgenommen und auf einer anderen Seite ausgeschieden werden. Dieser Text versteht sich als Gedankenexperiment, nicht um eine Wahrheit zu postulieren, sondern als Inspiration, Zeit anders, nichtlinear, ich möchte sagen, Korsakow-artig zu verstehen.

DAS ZEITKONZEPT DES REGENWURMS
Zeit scheint linear. Mit der Vergangenheit auf der einen Seite einer Geraden und der Zukunft auf der anderen. Und dazwischen ist ein Punkt, der das Jetzt symbolisiert. Der winzige, flüchtige Augenblick, in dem alles stattfindet, was ist.

Man könnte es das Zeitkonzept des Regenwurms nennen. Der Regenwurm gräbt sich durch die Erde, indem er auf der einen Seite Erde frisst und alles, was er nicht braucht, um Regenwurm zu sein, auf der anderen Seite wieder ausscheidet. Vor ihm die Stoffe, die sich umwandeln lassen in das, was das Lebewesen am Leben erhält. Vor sich die Zukunft (das was Regenwurm sein wird), vor sich mögliche Zukünfte, denn der Regenwurm kann die Richtung in die er sich bewegt ändern.

Hinter dem Regenwurm die Vergangenheit, das Ausgeschiedene, das, was nicht oder nicht mehr genutzt werden kann im Prozess des Lebens, der von Maturana und Varela “Autopoiesis” genannt wird. Zukunft kann man verstehen als das, was sein kann – das, was Baustein für den lebenden Körper sein kann.

Vergangenheit in diesem Sinne ist das, was durch den Regenwurm gegangen ist, was Teil des Regenwurms, innerhalb des Körpers war und nicht mehr ist. Das Jetzt ist in diesem Bild, was ist, was Körper ist, was im Körper ist, ob es verstoffwechselt werden kann, oder nicht.

Nun lässt es sich natürlich nicht sagen, ob ein Regenwurm eine Vorstellung von Zeit hat, aber wenn er eine hätte, würde ich vermuten, sie wäre linear.

DAS ZEITKONZEPT DER ZELLE
Wie würde eine Zelle Zeit empfinden? Eine Zelle ist von einer Membran umgeben, die durchlässig ist für die Stoffe, die die Zelle braucht, um Autopoiesis zu betreiben. Die Membran ist auch durchlässig für Abfallprodukte, die im Prozess des Lebens anfallen und die durch die Membran hindurch von innen nach außen in die Umwelt abgegeben werden. Die Dinge, die Zukunft und Vergangenheit ausmachen, liegen also in jeder Richtung um die Zelle und nicht, wie beim Regenwurm vorne und hinten. Vergangenheit und Zukunft ist also nicht in Richtungen geordnet, sondern in alle Richtungen um die Zelle herum.

Dieses Zeitkonzept, “das Zeitkonzept der Zelle”, kommt mir plausibler vor als das lineare Konzept. Denn es beschreibt viel besser, was ich wahrnehme, wenn ich mich beim Denken beobachte. Es beschreibt die “Gleichzeitigkeit” von Gedanken an Zukunft und Vergangenheit beim Denken, bei meinem zumindest.

Korsakow – Utopie nicht Vision

Es gibt zwei Arten mit Korsakow einen interaktiven Dokumentarfilm zu bauen. Die eine Art möchte ich die “kausale Methode” nennen, sie besteht darin zu planen, vorzugeben, zu versuchen zu bestimmen, was der Betrachter beim Betrachten erfahren soll. Die andere Art möchte ich “Korsakow-Methode” nennen, denn sie beschreibt die ursprüngliche Motivation, die zu Korsakow geführt hat.

Einen Korsakow-Film entsprechend der Korsakow-Methode zu bauen ist immer ein Experiment und wie bei jedem guten Experiment ist es ergebnisoffen. Das heisst, es ist allenfalls ein Startpunkt definiert, ein Thema, das womöglich in eine Richtung weist, nicht aber ein Ziel, ein Ergebnis, eine Aussage.

Obschon es möglich ist, mit Korsakow Filme nach der kausalen Methode zu bauen halte ich es für sinnlos, denn jedes andere Medium, jedes andere Format lässt sich dafür nutzen. Korsakow hingegen erlaubt die “Korsakow-Methode” – einen anderen Ansatz, den wenige filmische Werkzeuge überhaupt zulassen. Es ist eine radikal offene Erzählweise, ein filmisches Nachdenken, das immer neue Bezüge aufzeigen kann und die den Autor zum Zuschauer, zum Betrachter der eigenen Gedanken macht und den Zuschauer zum Autoren, der Bezüge entdecken und aufdecken kann, die so vielleicht nie geplant und womöglich bisher unentdeckt waren.

Formal lassen sich diese beiden Arten nicht ohne weiteres unterscheiden. Ein nach der Korsakow-Methode gemachter Film mag aussehen wie ein nach der kausalen Methode gemachter Korsakow-Film. Die Unterschiede sind in der Haltung, in der Herangehensweise des Autors begründet und vom Publikum allenfalls spürbar. Was ist die Message eines bestimmten Korsakow-Films? Wenn sich darauf eine klare Antwort geben lässt, handelt es sich sicherlich um einen nach der “kausalen Methode” gemachten Film. Die Korsakow-Methode führt nicht zu einem klaren Ergebnis, die Ursache und Wirkung, gut oder schlecht, Schuldigen oder Helden aufzeigt. Die Klarheit eines nach der Korsakow-Methode gemachten Films besteht darin, die Erkenntnis zu ermöglichen, dass es diese scheinbar klare Aufteilung eben nicht gibt. In diesem Sinne ist die Korsakow-Methode radikal. Es gibt kein gut, es gibt kein böse. Korsakow löst Kategorien auf und ist aus diesem Grund für manche unverständlich, ja unerträglich.

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