Gallery Weekend in Berlin – Würmer im Keller

Wenn man nicht die Werke als solche, sondern die Galerie als ganzes, als Kunstwerk begreift, erlebt man ein vielschichtiges Bild der Gesellschaft unserer Zeit.

Es ist Gallery Weekend in Berlin. Eine hippe Galerie in Mitte. Eine Ecke von Berlin, die immer schon häßlich war, vor 20 Jahren verlassen und ruhig, jetzt Teil des pulsierenden Lebens der Stadt, mit Baustellen, Verkehr und zahllosen Touristen.

Die Galerie ist ein Betonklotz. Besucher schieben sich in eine Eingangshalle an den Betonwänden drei Bilder, die aussehen, als hätte jemand Legoklötze gemalt.

Am Ende der Eingangshalle eine schmale, steile Treppe, selbst halb Kunstwerk und dadurch nur unsicher hinaufzusteigen. Im ersten Stock coole, offene Räume. Laut lachende und gut angezogene Galeristen sitzen hinter riesigen Apple Monitoren und scheinen – Masters of the Universe – glänzende Geschäfte zu machen.

Von der Eingangshalle führt auch eine steile Treppe in den Keller. Drei Videoprojektionen, ansonsten ist es stockfinster und es dauert eine Weile, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Nach und nach wird man gewahr, dass man den Raum mit zahlreichen anderen Menschen teilt. Besuchern einer Kirche gleich, die ehrfürchtig Heiligtümer bestaunen, die Erklärung der Wirren der Welt versprechen. Doch die Exponate sind kryptisch. Ein Film zeigt einen langsamen Gang durch eine Luxusvilla, ein Film zeigt einen Mann der zu einer Gruppe spricht, wie ein Arbeiterführer zu Arbeitern, ein Film zeigt Menschen beim Sex. Die Menschen, die stumm die Filme betrachten haben sich adrett angezogen, so wie man sich herausputzt, am Sonntag, wenn man in die Kirche geht.

Im Hinterhof der Galerie parkt ein riesiger schwarzer BMW, daneben in dunklem Anzug der Fahrer. BWM ist Sponsor des Gallery Weekend, so steht es auf der Limousine, die offenbar Menschen, die wichtiger sind als man selbst, von einer Galerie zur anderen trägt. Wichtige Menschen, mit denen die wichtigen Menschen in Anzügen im ersten Stock Geschäfte machen.

Sie lassen sich dabei beobachten. Der Betrachter der Kunstwerke wird Betrachter der Vorgänge. Die Vorgänge brauchen die Kunstwerke, um existieren zu können, so wie der Baum die Erde braucht. Sich mit den Kunstwerken im Keller zu beschäftigen, ist wie der Regenwurm, der die Erde umgräbt. Den Baum gäbe es wohl auch ohne den Wurm. Doch mit Wurm geht es ihm besser.

SILVESTER

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An Silvester ist der Teufel ängstlich. Die guten Menschen ziehen durch die Straßen und werfen mit Böllern und schießen Feuerwerkskörper in die Luft. Das macht dem Teufel Angst. Das macht mir Angst. Der Teufel und seine Hexen ziehen sich zurück und suchen Schutz. Die guten Menschen sind auf der Jagd. Die guten Menschen. Die guten Menschen sind nicht gut. Sie ziehen marodierend durch die Straßen. Die guten Menschen haben die Geschichte von den guten Menschen und vom Teufel geschrieben. Es ist Propaganda. Die Teufel und die Hexen sind die, die die Menschen lieben und sich darum bemühen, sie zu verstehen. Die Teufel und Hexen wollen im Einklang mit sich und der Natur leben.

Wie ich das erste mal bemerkte, dass jeder die Welt anders sieht

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Es war wohl in der 9. oder 10. Klasse. Ich saß im Physikunterricht in der vierten oder 5. Reihe. Der Lehrer schrieb etwas an die Tafel. Ich meldete mich und sagte, dass ich es nicht verstehe. Was bedeutete die Formel Rfmgt = 3 grt? Die ganze Klasse lachte. Der Lehrer war wütend. “Mann, Du brauchst eine Brille!” sagte ein Mitschüler, der wohl einen klaren Moment hatte. Er hielt mir eine Brille hin, die er von seiner Banknachbarin genommen hatte. Das war als Witz gemeint und steigerte die allgemeine Aufgeregtheit. Einem Witz niemals abgeneigt, ergriff ich die Brille und setzte sie mir auf die Nase.

Dann flippte ich aus.

Wie sich viel später herausstellte, war die Stärke der Brille fast haargenau die Stärke, die ich brauchte. Das war natürlich Zufall. Was aber passierte war, dass ich, mitten im Physikunterricht und völlig unvorbereitet, die Welt gänzlich neu sah. Wenn ich etwas außergewöhliches erlebe, macht mein Hirn ein Foto, das es dann auf immer speichert. Auf dem Bild zu sehen: Das mit roten Dachpfannen gedeckte Dach des Nachbarhauses der Schule. Die feinen Linien, die die einzelnen Dachpfannen gegeneinander abgrenzten, die vielen Rots, nicht mehr nur einfach ein rotes Dach. Ich war fasziniert und drückte das auch begeistert aus. “Wow, das Dach, schau dir mal das Dach an, wie schön das ist!” Wenn mir in diesem Moment schon klar gewesen wäre, dass das, was ich zum ersten mal (oder seit langer, langer Zeit zum ersten mal) sah, alle anderen immer sahen, hätte ich wohl geschwiegen. Aber für den Augenblick war ich einfach zu aufgeregt.

Für Herrn Schickram, meinen Physiklehrer, war mein Benehmen nur ein weiterer Beweis, dass ich ein Unruhestifter war. Und irgendwie, aber ganz anders, hatte er damit auch recht.

Korsakow and all – Interview in Portugal

Entrevista a Florian Thalhofer

Florian Thalhofer is a Berlin-based Artist. He is a documentary filmmaker and the inventor of Korsakow, a software to create a new kind of film and a principle to create a new kind of story. Thalhofer is currently working on a new Korsakow-project (film, show and installation).

Interview by Manuel José Damásio @ Universidade Lusófona.
Recorded Dec 4, 2014

Originaly posted here: http://www.ulusofona.pt/lessons/florian-thalhofer

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