Schall und Rauch

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Istanbul, 23. Mai 2010

In Bozen bin ich in einem Kunstmuseum gelandet. Ich musste schon mittags aus meinem Hotel aus-checken, mein Zug ging erst am Abend. Mein rechter Schuh hatte ein Loch, es regnete in strömen. In Berlin traf sich meine damalige Freundin an diesem Tag mit einem anderen Mann. Ich wusste es noch nicht, es war der Beginn des Endes unserer Liebe, einer Liebe an die ich fest geglaubt hatte. Die Trennung dauerte fast 1 1⁄2 Jahre, sie war so schmerzvoll, dass ich unsere gesamte Zeit davor dafür geben würde, sie nicht erlebt zu haben.

Im Bozner Museum für moderne und zeitgenössische Kunst gab es eine Ausstellung, die sich der New Yorker Band “Sonic Youth” widmete. Sonic Youth waren die Helden meiner Jugend. Ich lies mir eine Führung durch die Ausstellung geben. “Das sind die Mitglieder der Band”, sagte die junge Frau, die die Führung gab und deutete auf ein Plakat inmitten zahlloser Plakate, mit der eine Wand der Eingangshalle des Museums tapeziert war. Das gleiche Plakat hing fast 20 Jahre früher, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, in meinem Kinderzimmer in Schwandorf. Es war das einzige Plakat einer Band, das ich aufgehängt hatte. Sonic Youth war mein Fenster in die Welt gewesen.

Vor einigen Tagen haben wir mit dem Besitzer des Restaurants “Hamdi” ein Interview geführt. Das Restaurant liegt am Eminönü-Platz, es hat einen wunderbaren Blick auf die Galata-Brücke. Heute kamen wir vorbei um Baklava zu essen. “Schau dir den Raum im ersten Stock an”, sagt Berke als sie von der Toilette kommt, “ein toller Blick auf die Brücke!”

In dem Raum ist ein Tisch aufgebaut, es sieht aus, als solle eine Pressekonferenz stattfinden. Auf dem Eminönü-Platz wurde in den vergangenen Wochen ein Kunstwerk, eine große Stahlplastik aufgebaut. Am Abend zuvor fand bei strömendem Regen vor 200 Zuschauern die Eröffnung statt. Eine Reihe von Künstlern haben Sound-Installtionen gemacht, die auf 60 Lautsprechen laufen, die in der Plastik angebracht sind. Francesca von Habsburg ist Kunstmäzenin und hat das Projekt ermöglicht. Sie klingt unendlich eitel und selbstverliebt, als sie später auf der Pressekonferenz spricht. “Die ist 2 Milliarden schwer”, raunt mir ein Fotograf zu. Der Satz erinnert mich Bayram, den Papiersammler, der, wenn er von Geld spricht, auch immer von Millionen und Milliarden redet. Er rechnet noch im alten Geld, das vor fünf Jahren im Verhältnis 1 zu 1 Million umgewandelt wurde.

Lee Ranaldo sitzt auch auf dem Panel und sagt freundliche Worte. Lee Ranaldo ist Gitarrist von Sonic Youth. Lee Ranaldo ist Held meiner Jugend. Nach der Pressekonferenz traue ich mich nicht so recht, ihn anzusprechen. Was soll ich sagen? Sonic Youth hat einen Künstler aus mir gemacht? Was soll er sagen? Herr Thalhofer, wir haben auf sie gewartet? Lee Ranaldo tippt auf seinem Mobiltelefon herum. Ich stehe wenige Meter von ihm entfernt. Er sieht alt aus. Er sieht aus wie mein Kunstlehrer auf dem Gymnasium. Ich spreche ihn nicht an, ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe zu Ayse und Berke. Wir wollen zur Brücke um den Kiosk-Besitzer zu filmen.

Vor ein paar Tagen habe ich meine frühere Freundin aus der Liste meiner Facebook-Freunde gelöscht. Ein Versuch, die Gespenster aus der Vergangenheit zu vertreiben.

Artlöcher

Amsterdam, 28. November 2005
Ein indisches Restaurant in Amsterdam. Das Essen ist teuer, die Portionen klein. Ein Handwerker verlegt über unseren Köpfen ein Telefonkabel. Mir gegenüber sitzen drei Künstler. Es wird das unisperierteste Tischgespräch meines Lebens. Jeder der drei nur in der Lage in kryptischen Saetzen über die eigene Arbeit zu sprechen. Schlaue Worte, die keinen Sinn ergeben. Jeder hört niemandem zu.

Wind und weißes Kleid

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Dublin, 23. September 2005

Gerade in dem Moment als Olga das dritte mal anrief, verteilte ein kurzer, heftiger Windstoss mein Fruehstuck im gesammten Garten. Olga musste umbedingt sofort kommen, weil sie diese DVD brennen musste. Dazu brauchte sie meinen Computer.
Waehrend der Computer die DVD brannte, beschwerte sie sich ueber ihre Professoren an der warschauer Kunsthochschule. Denen hatte ihre Abschluss-Performance nicht gefallen, bei der sie sich eine rasierte Moese auf ihr weisses Kleid projezierte, um die weibliche Unschuld zu thematisieren.
Die DVD hat dann uebrigens nicht funktioniert. Ich hatte vorher schon angemerkt, dass man auf die Art, wie Olga es machen will, keine DVD brennen kann. Zumindest keine, die in einem DVD-Player laeuft. Aber ich hatte es nicht besonders nachdruecklich gesagt. Weil ich auf keinen Fall wollte, dass es so ausieht, als gehe mir Olga auf die Nerven.

Die Welt ist eine Wolke

Vor kurzem ist mir eingefallen, wie die Welt funktioniert. Es ist ganz einfach: Die Welt ist eine Wolke.

Bild: Jim Avignon

Die Welt ist eine Wolke, und um die Wolke herum ist nichts. Das Nichts ist schwarz. Doch das Nichts ist nicht nur nichts, es ist gleichzeitig alles. Das Nichts ist der unendliche See aller Möglichkeiten.

So wie eine Wolke am Himmel aus Wasser-Molekülen besteht, besteht die Wolke, die die Welt ist, aus Menschen. Es gibt eine Kraft, die die Moleküle beisammen hält, die verhindert, dass sie in alle Richtungen auseinander streben und sich im Nichts verlieren. Diese Kraft ist eine Art Klebstoff, der die Menschen beisammen hält. Der Klebstoff heißt Kommunikation. Die Menschen reden miteinander. Ununterbrochen und über nur ein Thema: Es geht um die Frage, was die Welt ist.

Die Welt ist die Wolke. Und die Wolke ist das, was alle Menschen miteinander verbindet. Teil der Wolke ist jeder Mensch, solange er nur in Verbindung zu mindestens einem anderen Menschen steht, der seinerseits Verbindung zur Wolke hat. Menschen, die ihren Kontakt zur Wolke verlieren, driften ins Nichts ab. Sie verlieren ihren Kontakt zur Welt. Sie sind verrückt, verrückt gegenüber der Welt.

Die meisten Menschen sind auf allen Seiten von anderen Menschen umgeben. Wie viele es sind, bestimmt die Dichte der Wolke an dieser Stelle. Neue Ideen entstehen am Rande der Wolke. Ideen, Erfindungen und Entdeckungen, die die Welt verändern.

Was passiert, wenn ein Mensch am Rande der Wolke einen Bewegung nach draußen macht? Ein kleines Stück, gerade so weit, dass er die Verbindung zur Wolke nicht verliert… Sie wird etwas entdecken, was es bisher noch nicht gab, etwas, das außerhalb der Wolke, außerhalb des Bewusstseins der Welt liegt. “Hey!” wird sie rufen “seht, was ich entdeckt habe!” Und wenn der Pionier andere überzeugen kann, nach sich ziehen kann, dann passiert etwas interessantes: Die Wolke verändert ihre Form. Die Welt verändert sich ein Stück und das, was gerade noch außerhalb der Welt lag ist plötzlich Teil von ihr.

Ständig entstehen neue Ideen. Ununterbrochen fliegen auf allen Seiten der Wolke Moleküle aus ihr heraus, doch nur die wenigsten schaffen es, andere Moleküle mitzureissen. Die meisten verlieren sich im Nichts, oder stürzen nach einem kurzen Ausflug wieder in die Welt zurück, ohne die Form der Wolke an dieser Stelle dauerhaft zu verändern.

Manchmal stellt die Welt auch fest, dass vor ihr schon jemand da war. Vincent van Gogh zum Beispiel. Ein besonders verrücktes Exemplar Molekül, ein Maler, der zu seinen Lebzeiten nie ein Bild verkaufte. Von Drogen wirr im Kopf, schnitt er sich ein Ohr ab. Ein Verrückter, kein Zweifel. Doch die Wolke hat sich in seine Richtung bewegt. Zufällig vielleicht, wer könnte das sagen? Die Welt hat sich verändert, hat seine Bilder entdeckt und plötzlich war Vincent van Gogh nicht mehr verrückt. Er war ein Genie, der Welt voraus.

Die Wolke ist in ständiger Veränderung begriffen. Zu keinem Zeitpunkt ist sie genau gleich. Doch sie verändert sich langsam, und sie hat ihre Zentren. Religionen sind solche Zentren zum Beispiel, oder politische Systeme. Und die Wolke hat viele Zentren. Die Zentren wirken wie innere Schwerpunkte, die bewirken, dass sich die Wolke nicht zu schnell bewegt.

Die Wolke breitet sich nicht nur aus, sie verschwindet auch aus Bereichen in denen sie schon war und überlässt diese wieder dem Nichts. Das Wissen und das Weltbild der Ägypter zum Beispiel. Wir sehen ihre Pyramiden, doch es bleibt uns völlig verschlossen, wie ihre Welt ausgesehen hat. Man kann sich aus unserer Welt heraus ein Bild davon machen. Verstehen kann man es nicht. Und das Bild ist geprägt von dem, was die Welt jetzt ist.

Sophie, einer Freundin von mir, hat eine Beobachtung gemacht. Merkwürdig, hat sie gesagt, dass man einem Film von 1950, der im Jahr 1850 spielen soll, viel eher das Jahr 1950 ansieht, als das Jahr, in dem es in dem Film geht; auch wenn man sich 1950 alle Mühe gegeben hat, die Zeit um das Jahr 1850 so authentisch wie möglich darzustellen. Ein historischer Film 20 Jahre später gedreht, würde ganz anders aussehen, und auch in ihm könnte man seine Entstehungszeit sofort ansehen. Offensichtlich ändert sich das Bild von dem was man sich von der Vergangenheit vorstellt, mit der Zeit.

Die Welt ist eine Wolke, die sich in ständiger Veränderung befindet. Man kann sie nicht begreifen, denn man kann, solange man Teil der Welt ist, nicht von der Seite auf sie blicken um ihre Form zu verstehen. Man könnte theoretisch alle Moleküle der Wolke untersuchen. Das bedürfte allerdings viel Zeit. Zeit in der sich die Welt bereits wieder verändert. Man müsste die Welt also einfrieren, dann könnte man alle Moleküle in Ruhe einzeln betrachten um auf diese Weise die Welt zu verstehen. Doch auch das kann man nicht. Die ganze Welt ist viel, viel zu groß. Man kann versuchen kleine Ausschnitte einzufrieren und zu verstehen. Und das ist es, was wir machen, wenn wir Bilder aufnehmen, Texte schreiben, Töne sammeln. Wir versuchen, kleine Ausschnitte der Welt einzufrieren um sie zu verstehen.

The world is a cloud

Recently I figured out how the world works. It is very simple: The world is a cloud.

Image: Jim Avignon

The world is a cloud and around the cloud there is nothing. The Nothing is black. But the Nothing is not just nothing, simultaneously it is everything. The Nothing is the never-ending ocean of all possibilities.

Just like a cloud consists of water molecules, the cloud, which is the world, consists of people. There must be a force that keeps the molecules together, that prevents them from striving into different directions and from getting lost in Nothing. This force exists. It is a type of glue that keeps the human race together. This glue is called communication. People talk to each other. Non-stop and about one topic only: what is the world.

But the cloud is the world. And the cloud is that which connects all humans to each other. Each human being is part of this cloud, just as long as (s)he is in touch with at least one other human being, who is also connected to the cloud. Humans who lose their contact to the cloud drift into Nothing. They lose touch with the world. They are insane, insane to the world.

Most people are surrounded by other people. The density of the cloud at a particular spot is determined by the quantity of these people. New ideas develop at the edge of the cloud. Ideas, inventions, discoveries that change the world. What happens when a person at the edge of the cloud takes one step to the outside? A tiny bit, just big enough that (s)he will not lose the connection to the cloud. (S)he will discover something that has not existed before, something that exists outside the cloud, outside of the world’s consciousness. (S)he would call out “Hey! See what I have discovered!” And if the pioneer manages to convince others, can make them follow her, then something interesting is about to occur: The cloud will change its shape. The cloud changes just one bit and what was external a moment ago is now internal.

New ideas come about constantly. Molecules fly beyond the cloud’s borders non-stop, but only few manage to engage other molecules. Most of them get lost in the Nothing, or fall back to the world after a short excursion, without permanently altering the cloud’s shape at that spot.

The world will sometimes notice that someone had been there before it. For example, Vincent van Gogh. A particularly crazy molecular specimen; a painter who didn’t sell a single painting during his lifetime. Driven mad by drugs he cut off his own ear. An insane man, no doubt about it. But the cloud did move in his direction. Coincidentally perhaps, no one can tell. The world has changed, has discovered his paintings, and suddenly Vincent van Gogh was no longer insane. He was a genius, ahead of the world.

The cloud is constantly changing. It is never the same at any two moments. But the change occurs slowly, and the world has its centers. Religions are such centers, for example, or political systems. And the cloud has many centers. These centers have the effect of an inner center of gravity, making sure that the world does not move too fast. The cloud doesn’t just grow, it also disappears in areas where it had existed before and leaves these areas to the Nothing. For example, the Egyptians’ knowledge and view of the world. We see their pyramids, and yet we cannot grasp what their world must have looked like. From our world of view we can imagine it, but we cannot comprehend it. And our imagination is affected by the current state of the world.

A friend of mine, Sophie, noticed this, too. She said, ‘It is strange, when you watch a movie from the 1950s set in the 1850s, you see the 1950s much more than the year in which it is supposed to take place. Even if in 1950 they tried their best to re-create the year 1850 as authentically as possible. A historical movie that was filmed only 20 years later would look entirely differently, but again it would reflect its date of origin. Obviously the way we view the past changes over time.

The world is a cloud that is constantly changing. One cannot fully grasp it, because as long as one is part of this world one cannot view its exterior to understand its shape. Theoretically you could examine all of the cloud’s molecules. However, this would require a lot of time. Time during which the world would change again. One would have to freeze the world to watch the molecules in peace in order to understand the world this way. But that is not possible either. The whole world is much, much too large. One could try to freeze and understand smaller sections. And this is what we are doing when we take pictures, write text, make recordings. We are trying to freeze small sections of the world in order to understand it.

Translation by Anja Tachler.