Signal & Noise & Lineares Erzählen

Leute denken oft, dass Dinge dann Sinn machen, wenn sie sich linear ausdrücken lassen. Etwas überzeugt, wenn es in Worten gesagt werden kann, in Form eines Textes, am besten in einem Buch oder auch in einem (linearen) Film. Und so überprüft man Dinge (Gedanken, Beobachtungen) nicht nur in der Akademie auf ihre Sinnhaftigkeit indem man sie daraufhin überprüft, ob sie sich in linear-kausaler Logik ausdrücken lassen. Es ist ein Standardverfahren, Sinn von Unsinn, “signal” von “noise” zu unterscheiden. Lässt sich etwas linear-kausal erklären? Wenn ja, muss es stimmen.

Die Methode, Dinge linear kausal zu ordnen, ist wunderbar und hat massgeblich dazu beigetragen dahin zu kommen, wo wir als Menschheit jetzt sind. Linear-kausales Denken hat uns in die Lage versetzt, nicht nur die Technologien zu entwickeln, die heute weitestgehend unser Leben weltweit prägen, sondern auch die Gesellschaften und Kulturen in denen wir leben. Linear-kausales Denken prägt so gut wie jeden Aspekt des Lebens, wie Städte aussehen ebenso wie Gemeinschaften strukturiert sind, wie Kraftwerke oder Fortbewegungsmittel konstruiert sind.

Und doch es ist vermutlich nicht die einzige Methode Sinnhaftigkeit zu erkennen und auszudrücken. Eine andere Methode (und ich bin versucht zu sagen die andere Methode) ist nichtlineares, multikausales Denken wie es sich z.B. in Korsakow ausdrückt. Jedes Ding (jeder Gedanke, jede Beobachtung) hat viele Bezüge gleichzeitig. Alle Dinge beeinflussen sich gegenseitig, üben Kräfte aufeinander aus. Dabei ist alles immerzu in Bewegung und jedes Ding hat Auswirkungen auf alle anderen Dinge. Das scheint mir das Grundprinzip zu sein, das auf allen Eben und überall im Universum gilt. Innerhalb eines Atoms ebenso, wie innerhalb von Galaxien. Unsere Gesellschaften verhalten sich so, unsere Beziehungen untereinander, alles was wir tun hat Auswirkungen in alle Richtungen (the flap of a butterfly) und alles was wir tun ist dabei gleichzeitig Ergebnis von Kräften, die aus allen Richtungen auf uns einwirken.

Leute denken oft, dass Dinge Sinn machen, wenn sie sich linear ausdrücken lassen. Ich vermute es könnte eher umgekehrt sein:

Lineare Ausdrucksformen lassen Dinge sinnvoll erscheinen, die sich in diesen Formen ausdrücken lassen. Dinge die sich nicht linear ausdrücken lassen erscheinen hingegen sinnlos, sie scheinen “noise” zu sein.

Könnte es sein, dass es noise in dem Sinne gar nicht gibt, dass das, was uns wie noise vorkommt eigentlich signal ist und wir es nur nicht lesen können?

Wie es ist, in den Medien zu arbeiten

Dieser Text bezieht sich auf einen Artikel in der Zeit, der fragt, wer da wohl in Vilshofen gegen Corona demonstriert. Ich komme aus der Gegend und ich habe da ein Gefühl.

Der Text erinnert mich an früher. Ich komme aus der Gegend, die in dem Artikel beschrieben ist. Meine Familie ist von dort und sie ist immer noch dort und dort ist für mich mittlerweile weit weg. Seit 30 Jahren lebe ich in Berlin und neuerdings in Berlin und in einem Dorf in Brandenburg, wie es sich für einen Berliner gehört, einen Berliner meiner Art zumindest, der studiert hat und “in den Medien” arbeitet. So scheint es zumindest, wenn man die Zeit oder den Spiegel ließt, aber diese Texte sind ja auch ausnahmslos von Leuten geschrieben, die selbst „in den Medien arbeiten“ und viele von denen, die im Spiegel oder in der Zeit arbeiten leben, wie ich, in Berlin.

Was es bedeutet, “in den Medien” zu arbeiten, hätte ich mir früher, als ich noch dort gelebt habe, nicht recht vorstellen können. „In den Medien arbeiten“ – was machen die da, den ganzen Tag?

Nun hat sich die Zeit nicht nur bei mir, sondern auch dort weitergedreht, so dass ich gar nicht so recht sagen kann, welche Vorstellungen man dort heute von den Medien hat – was zum Beispiel die denken, die im Gegensatz zu mir geblieben sind, aber gleichzeitig mit mir dreißig Jahre älter geworden wurden. Ich habe keine genaue Vorstellung, aber ich habe ein ziemlich genaues Gefühl.

Die Leute dort haben eine vage Vorstellung von dem, wie es „in den Medien” so zugeht. Und weil man sich selbst meist nicht bewusst ist, dass man nur eine vage Vorstellung hat, kommt einem das Bild nicht weniger klar vor, als wenn man selbst „in den Medien“ arbeitet, wie ich es mehr als zwanzig Jahre lang getan habe. Die Vorstellung dort kann eigentlich nur von dem geprägt sein, was man in den Medien über die Medien hört und das ist meist eher kritisch. Medien reflektieren über sich selbst permanent und sie tun das um sich zu verbessern. So verstehe ich das zumindest, wenn ich mich zum Beispiel an die zahllosen Redaktionskonferenzen erinnere, deren interessantester Teil meist die Sendekritik war, die abwechselnd von verschiedenen Kollegen vortragen wurde. Da wurde wenig gelobt und wie der Name schon sagt viel kritisiert. Und mit dieser Haltung treten Sender auch nach aussen auf. Wie sollte es anders sein? Die selben Kollegen waren oft auch ein Gesicht des Senders. In meinem Fall waren das Journalisten, deren schauspielerische Qualitäten eher weniger ausgeprägt waren, ich beobachtete sie ja vor und hinter der Kulisse.

Aus Zuschauersicht müssen die meisten Menschen im Fernsehen wie Schauspieler aussehen, das kann ich mir vorstellen, wenn ich mir den Blick hinter die Kulissen wegdenke. Auch bei uns wurden die Journalisten, bevor sie auf Sendung gingen, von der Garderobe ausgestattet und in der Maske gekämmt und geschminkt. Sie wurden hergerichtet, bevor sie auf die Bühne gingen, kein Wunder dass man sie für Schauspieler hält, wenn man nur den Blick auf die Bühne kennt.

Zwar wurden immer wieder Besuchergruppen durch den Fernsehsender geführt, doch das war natürlich nur der allerkleinste Teil des Publikums und auch dieser Teil bekamen nicht alles zu sehen. Sie hatten keinen ‚access to all areas‘ so wie ich, mit meinem Mitarbeiterausweiss, auf die man Geld für die Kantine laden konnte und die all die hunderte Menschen hatten, die dort arbeiteten. Ich will nicht sagen, dass alles immer nur gut war. Nirgends ist alles immer nur gut. Aber nach allem, was ich gesehen habe würde ich sagen: es ist OK, es ist echt OK. Journalisten kann man generell trauen.

Wahrscheinlich reden die Leute dort, wo ich aufgewachsen bin, gar nicht so anders als die, die in Berlin leben und nicht „in den Medien“ arbeiten. Wobei ich auch das gar nicht so recht beurteilen kann und das liegt daran, dass alle, die ich jahrelang kenne und mir daher erlaube einzuschätzen, wie sie „über die Medien“ denken, mindestens einen langjährigen Freund haben, der in den Medien arbeitet und das bin ich. Und die meisten kennen noch ein paar andere. In den Kreisen in denen ich mich bewege arbeiten viele Menschen „in den Medien“. Es ist nichts besonderes. Das sind gute Leute, so wie mein Nachbar in Brandenburg, der ist Mauerer. Und auch wenn wir uns nicht ganz einig darüber sind, wie hoch die Hecke zwischen unseren Grundstücken sein soll und obwohl ich geimpft bin und er nicht, Uwe ist ein guter Typ und wenn ich seine Hilfe brauche, hilft er mir. Und ich helfe ihm auch.

Vielleicht sollten wir uns manchmal daran erinnern – hey, wir sind alle vom selben Dorf.

Alles ist Werkzeug – Werkzeug, welches das Denken formt.

Die Dinge formen das Denken, so wie das Denken die Dinge formt.

“Alles ist Werkzeug, das Denken formt?”, mögen Sie fragen, “Wie soll eine Tasse ein Werkzeug sein, das Denken formt?”.

Auf diese Frage lässt sich mit einem einfachen Gedankenexperiment antworten, das sich auf jedes Ding oder jeden Gedanken anwenden lässt, der zu einem früheren Zeitpunkt nicht existierte, also irgendwann einmal erfunden werden musste.

Das Gedankenexperiment funktioniert so:
Stellen Sie sich vor, wie eine Welt aussehen würde, wenn eine bestimmte Sache (ein bestimmter Gedanke) nicht er- oder gefunden worden wäre.

Gedanken bauen aufeinander auf. Jeder Gedanke baut auf früheren Gedanken auf, so wie jede Erfahrung auf früheren Erfahrungen aufbaut. Was für Gedanken und Erfahrungen gilt, gilt auch für Dinge. Wäre eine Sache zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erfunden worden, wären damit auch alle daraus folgenden Dinge nicht erfunden worden oder hätten entstehen können.

(Dieses Phänomen wird oft als Pfadabhängigkeit bezeichnet).

Was bedeutet das für unsere Tasse?
Ohne Tasse keine Möglichkeit, Flüssigkeit zu speichern. Ohne die Möglichkeit, Flüssigkeit zu speichern, keine Möglichkeit, Treibstoff zu speichern. Ohne Treibstoff, kein Auto. Ohne Becher oder Tasse würden wir also in einer Welt ohne Autos leben (und ohne viele andere Dinge, die die Erfindung des Bechers voraussetzen – und das ist: eine Menge).

Alles, was wir heute haben, alles, was der Menschheit derzeit zur Verfügung steht, beflügelt unsere Vorstellungskraft und Kreativität uns mögliche Zukünfte vorzustellen, was natürlich ein erster Schritt ist, um dorthin zu gelangen. Und in diesen Zukünften werden die Menschen wieder neue Dinge erfinden und sich Gedanken ausdenken. Dinge und Gedanken, die dann wiederum die Grundlage für zukünftige Dinge und Gedanken sind.

Genau wie in der Vergangenheit. Wenn Sie auf die Vergangenheit zurückblicken, können Sie sehen, wie ein Gedanke auf anderen aufbaut und wie Gedanken von einander abzweigen, wie Ideen, entstanden sind, die wiederum zu neuen Ideen geführt haben.

Und so wie “keine Tasse” “kein Auto” zur Konsequenz hätte und gleichzeitg wohl auch “keine Tasse” zu “kein Kaffee” geführt hätte, der neben dem Computer steht, auf dem ich diese Worte tippe.

Doch höchstwahrscheinlich hätte “keine Tasse” auch zu “kein Computer” geführt und vielleicht würde es nicht einmal die Worte, oder zumindest jedenfalls viel weniger Worte geben und ganz sicher kein Tippen – denn höchstwahrscheinlich wäre ohne die Erfindung einer Tasse auch das Tippen nicht erfunden worden.

Verlassen wir diese Achterbahn des Gedankenexperiments und kehren lieber zurück in die Überschaubarkeit des Jetzt.

Was sehen Sie vor sich, wenn Sie durch Ihre Augen blicken?

Alle Dinge, die Sie sehen können, lassen sich in eine von zwei Kategorien einordnen.

A) Dinge, die Sie verstehen, und B) Dinge, die Sie nicht verstehen.

Und wenn Sie wie ich sind (oder wie Erwachsenene im allgemeinen), dann sehen sie viel mehr Dinge, die Sie verstehen, als die, die Sie nicht verstehen. Und Verstehen bedeutet nur, dass man mit dem Grad des Verstehens, den man erreicht hat, zufrieden ist. Der Staubsauger zum Beispiel, der neben mir liegt (ich muss ihn irgendwann mal wegräumen) – natürlich verstehe ich nicht wirklich, wie ein Staubsauger funktioniert, (was ich mir auch einfach selbst beweisen könne, wenn ich versuchen würde einen Staubsauger zu bauen), aber ich habe ein allgemeines Verständnis. Ich verstehe nicht die Details und kenne vielleicht nicht einmal alle praktischen Verwendungsmöglichkeiten des Staubsaugers, aber ich bin mit meinem Kenntnisstand zufrieden. Es genügt mir, nicht tiefer zu gehen zu wollen. Meine Einstellung (nicht die Sache selbst) macht diesen Staubsauger zu Teil meines Universums der Dinge, die ich verstehe.

Ich schätze hingegen, was ich nicht verstehe. Andere Menschen zum Beispiel, vor allem diejenigen, die mir nahe stehen.

Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Manche Menschen scheinen bestrebt zu sein, in einer Welt zu leben, die sie verstehen. In der sie ein Maß an Verständnis erreicht haben, mit dem sie zufrieden sind. Diese Welt verteidigen sie auch. Und obwohl ich die Annehmlichkeiten sehe, die das haben kann (zum Beispiel gibt es viel weniger Zweifel), beneide ich diese Menschen nicht. Ich bin ein Suchender, ein Forscher, der wissenschaftliche Werkzeuge und Methoden einsetzt, um besser zu verstehen.

Die Dinge formen das Denken und das Denken formt die Dinge, dieser Loop treibt uns Menschen voran.

Angst

Die Leute haben Angst. Sie ziehen die Rollläden herunter, wenn es dunkel wird und schalten den Fernseher ein. Sie schauen Nachrichten, sie schauen Filme, sie schauen Talkshows, sie schauen Werbung. Überall wird ihnen Angst gemacht. Die Leute haben Angst. Angst vor Verbrechen, Angst um ihre Gesundheit, Angst vor den Auswirkungen der Technik, Angst, etwas zu verpassen, Angst vor dem, was sie nicht verstehen.

Überall wird den Leuten irgend etwas erklärt und wenn die Leute denken, dass sie etwas verstanden haben dann erklärt ihnen jemand, das es doch ganz anders ist.

Wir leben in komplizierten Zeiten. Widersprüchliche Informationen kommen von allen Seiten und jede Information macht sich wichtig, jede Information verlangt Aufmerksamkeit und droht mit Konsequenzen wenn nicht beachtet.

Wer soll sich da noch auskennen?

Wer soll da noch Vertrauen haben? Angst ist kein guter Nährboden für Vertrauen.

Die Leute haben schreckliche Angst und sie wissen nicht wovor. Sie leiden. Sie beklagen sich und schimpfen über ihr Unglück. Leute gehen auf die Strasse und fordern, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Sie sind wütend und fühlen sich machtlos und ohnmächtig.

Man könnte den Leuten sagen, dass ihre Angst unbegründet ist. Es gibt immer weniger Verbrechen, die Menschen werden immer gesünder und wenn doch etwas passiert werden sie medizinisch so gut versorg, wie noch nie. Die Politiker unserer Zeit sind wahrscheinlich die verantwortungsvollsten, die es je gab und Technik bringt viel mehr Vor- als Nachteile.

Aber das wollen die Leute nicht hören. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf das, was bedrohlich sein könnte, wenn sie Fernsehen schauen oder im Internet Informationen auswählen. So als könnten sie nicht anders. So als hätten sie Angst, eine Gefahr zu verpassen.

“Cliche is whatever is in use & whatever is in use is environmental, hence largely invisible.“

Aus Edmund Carpenter „They Became What They Beheld“

Der Satz von Edmund Carpenter klingt wie ein Zaubertrick. Wie kann man es anstellen, dass etwas in aller Öffentlichkeit unsichtbar ist?

Das Cliché ist der Abzug eines Originals und das Original war irgendwann die Wirklichkeit, die Welt da draussen, in ihrer ganzen Vielschichtig­keit und Komplexität. Das Original beinhaltet die Unendlichkeit der möglichen Ent­scheidungen die dem Cliché fehlen. So wie eine fotografischen Aufnahme die man betrachtet immer ein Rückblick ist, ein Blick auf das Bild, das im Augenblick des Moments aufgenommen wurde, wie ein Schnappschuss aus der Vergangenheit.

Wenn ich ein Bild von mir aus der Vergangenheit betrachte – die Möglichkeiten, die ich damals hatte! Ich hätte in jede Richtung gehen können. Und dann bin ich in eine Richtung gegangen. Und jetzt bin ich 49 Jahre alt, lebe als Künstler in Berlin, in Kreuzberg in einer Altbauwohnung, mit einem Job in der Schweiz. Ich hätte in alle möglichen Richtungen gehen können und dazu zählt auch in der Kleinstadt in Bayern zu bleiben, wie meine Geschwister. Dann würde ich heute wohl noch Kleinstadt-Gedanken denken, so ähnlich wie ich sie früher gedacht habe.

Ich möchte Sie bitten, sich diese Person, die ich jetzt bin, vorzustellen, vor Augen zu führen. Ein Künstler, in einer Kleinstadt aufgewachsen, als junger Mann in die große Stadt gegangen und zu einigem aber nicht allzu viel Erfolg gekommen. Stellen sie sich dieses Person vor – das bin ich.

Das war ich ca. 1995 – man kann schon er­kennen, dass aus mir mal ein Künstler werden wird – nicht wahr?
(Wobei – sahen wir nicht alle so aus, damals?)

Das ist ein Cliché. Meine Erinnerung ist ein Cliché. Das Bild, das Sie jetzt im Kopf haben, von einem Künstler, 49 Jahre alt, der von der Kleinstadt in Grossstadt und in die ganze Welt gekommen ist.

Mehr müssen die über mich nicht wissen.

Nur vielleicht noch so viel: Sie haben keine Ahnung wer ich bin. Sie würden mich nicht einmal auf der Straße erkennen und selbst wenn sie es täten, sie hätten immer noch keine Ahnung wer ich bin.

Sie haben keine Ahnung wer ich bin – ich weiß es ja selbst nicht. Wer bin ich, wer werde ich morgen sein, wo bin ich, wo werde ich morgen sein, in zwei Jahren?

Wenn Sie sich diese Fragen nicht stellen, oder sich diese Fragen einfach beantworten können, dann leben sie wahrscheinlich immer noch in einer Kleinstadt oder sind dahin zurück­gekehrt und sei es nur im Geiste.

Ich bin: genauso komplex wie Sie.

Sie sind so komplex, wie Sie in diesem Augenblick sind, so komplex wie ich, so komplex wie jeder Mensch. Egal wo sie leben, ob als Künstler in Berlin oder als Blumenhändler in einer Kleinstadt in Bayern oder als Jäger und Sammler in Papua-Neuguinea.

Betrachten sie noch ein mal das Klischee, das sie von mir im Kopf haben.

Kann ein Cliché jemals die ganze Komplexität einfangen?

Sie denken zu wissen wer ich bin, weil Sie ein Cliché im Kopf haben, ein Bild und hinter diesem Bild kann ich mich verstecken. Kann ich wie unsichtbar werden. Das was Sie, was andere sehen, ist das Klischee, nicht mich.

Damit erklärt sich mir auch ein eine uralte Frage, die ich aus der Kleinstadt mit mir herumtrage: Warum ist es so wichtig, was die Nachbarn denken?

In der Kleinstadt habe ich beobachtet wie die Leute beständig am Cliché (dem Bild, das die Nachbarn von einem haben) arbeiteten. Und zwar buchstäblich gearbeitet, indem man zum Beispiel am Samstag vor dem Haus “die Straße zu­sammengekehrt hat, wegen der Nachbarn”. („Kleine Welt“, 1997, beginnt genau damit, “Planet Galata”, 2010, mit einem ähnlichen Gedanken).

In Berlin macht man das nicht. Hier gibt es einen Straßendienst, den alle gemeinsam bezahlen, durch ihre Steuern. Nun kehren wir auch in Berlin manchmal die Straße vor unserem Haus. Aber das ist nur, weil meine Frau zufälliger Weise einen Laden hat. Wegen der Nachbarn machen wir das jedenfalls nicht.

In der Kleinstadt ist das Cliché offenbar wichtiger, vielleicht weil man sich mehr verstecken muss. In der Grossstadt ist es leichter sich so zu zeigen, wie man ist, weil man anonym ist. Man taucht kurz auf und verschwindet wieder in der Masse. Das geht in der Kleinstadt nicht.

In der Kleinstadt kann man nur so sein wie man ist, wenn man sich hinter hohen Hecken versteckt. Hinter den hohen Hecken des Clichés. Die hohen Hecken sind das Bild, das die anderen von einem haben. Die Arbeit am eigenen Bild ist die Arbeit an der Hecke, hinter der man sich un­sichtbar machen kann. Das gilt natürlich nicht nur aber eben besonders in der Kleinstadt. So gut wie jeder wendet auf die eine oder andere Art den Zaubertrick an – bewusst oder unbewusst.

Doch mit dem Zaubertrick geht ein Fluch einher. Genauer gesagt zwei Flüche.

Der erste Fluch:
Man ist nur so lange unsichtbar, solange man hinter seiner Hecke bleibt. Ich bin heute ganz zufrieden mit meinem Cliché vom Künstler in Berlin. Dahinter kann ich mich prima verstecken. Ich hatte mich in der Vergangenheit aber mal an einem anderen Cliché versucht: junges Startup. Das war eher ungemütlich, denn ich hatte ständig Angst, dass man mir auf die Schliche kommt, dass man hinter die Kulisse schaut, dass die Hecke quasi umfällt.

Doch der eigentliche Fluch ist ein anderer:
Es ist eine grausame Übung, wenn man die ganze Zeit das Gefühl hat sich verstecken zu müssen. Dieses Gefühl macht in hohem Maße unfrei. Unfrei, wenn man sich irgendwann nicht mehr hinter der Hecke hervortraut. Damit ist man an seine Hecke gefesselt. Und das wahrscheinlich ein Leben lang. Das einzige Leben lang, das man hat.

Will man das? Gefesselt sein von dem Bild, das andere von einem haben?

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