Wahre Tomaten

Berlin, April 2014

Mein Vater ist 84 Jahre alt. “Was machst Du heute?” frage ich ihn am Telefon. “Ach, ich sitze am Computer und schaue im Internet nach, wie man Tomatenstauden pflanzt.”

“Aber du pflanzt doch schon sein 40 Jahren Tomaten!” sage ich.

“Ja schon”, sagt er, “sie wachsen auch immer großartig und wir haben jedes Jahr mehr Tomaten, als wir essen können, aber ich wollte halt mal wissen, wie es richtig geht.

Eitelkeit

Thessaloniki, 31. Mai 2012

Viel zu lange war ich eitel. Ich war unsicher und es war mir wichtig, wie andere mich sehen. Ich habe Freunde um mich versammelt, die meine Eitelkeiten pflegten. Leute, die mir sagten, was meine Eitelkeit hören wollte. Doch diese Freunde waren selbst eitel und im Austausch musste ich ihnen geben, was ihre Eitelkeit hören wollte.

Wir waren wie voneinander abhängig.

Doch dann wurde ich der Eitelkeit überdrüssig. Ich bemerkte die Energie, die es kostet, die Eitelkeit zu pflegen und wie es mich abhielt, mutig zu sein. Zu sagen, was man denkt, zu tuen, was man fühlt. Denn was könnten die anderen denken? Wer eitel ist, hat in Wirklichkeit Angst, von den anderen als das gesehen zu werden, was man selbst befürchtet zu sein: Nichts. Staub der Geschichte. Unbedeutend. Nicht der Rede wert.

Dann habe ich erkannt, dass ich genau das bin: Nichts, unbedeutend, nicht der Rede wert. Und plötzlich konnte ich sagen, was ich denke, tuen was ich fühle. Und es war ganz einfach und es wurde immer einfacher, denn ich musste nicht mehr darauf achten, was die Anderen denken, wie die Anderen mich sehen.

Eine Zeit lang habe ich noch die Eitelkeit meiner Freunde gefüttert. Bis ich spürte, wie viel Energie mir das nahm. Statt für meine Gedanken habe ich für ihre Gedanken gearbeitet. Eitle Gedanken, hohle Gedanken die zu nichts anderem gut waren, als Eitelkeit zu befördern.

Es tut weh, mit Freunden zu brechen. Und es macht Angst. Denn jenseits der Eitelkeit ist da auch die Sorge, alleine zu sein. Der Bruch kam abrupt. Denn die Freunde bekamen schon eine Weile nicht mehr das, was sie brauchten. Und so verlor ich viele Freunde auf einmal.

Und das war gut. Ich verlor nicht alle Freunde. Ein paar wenige blieben. Es blieben die, die nicht aus Eitelkeit mit mir befreundet waren. Und ich lernte, dass ich gar keine eitlen Freunde will. Eitle Freunde sind Zeit- und Energieverschwendung. Was man von eitlen Freunden bekommt glitzert, doch es ist schal und in Wahrheit nichts wert. Nichts, was man will und nichts, wofür man Energie aufwenden sollte.

Und ich habe gelernt. Lieber als eitle Freunde habe ich gar keine Freunde. Lieber als eitel zu sein bin ich nichts, unbedeutend, nicht der Rede wert.

Mitdenken

27. März, Thessaloniki

Nach der Korsakow-Show im Olympion, dem schönsten und größten Kino im Thessaloniki, gehen wir mit ein paar Freunden und Beteiligten Essen. Ich frage Olga Drossou, die Chefin der lokalen Dependance der Heinrich-Böll-Stiftung, wie ihr die Veranstaltung gefallen hat. Sie antwortet:

“Ach, es war schrecklich!” nichts, was nicht schon tausend Mal gesagt worden sei. Wenn man das Fernsehen anmachen würde, das Radio, auf allen Kanälen werde über die Krise diskutiert, alle Zeitungen schrieben darüber, seit mehr als zwei Jahren ginge das so, sie könne es nicht mehr hören. Der Abend hätte keine weiteren Erkenntnisse gebracht, eine sinnlose Veranstaltung!

Fast ummittelbar darauf, wendet sich Athi Wiedemayer an mich – sie ist griechische Deutschübersetzterin und unterrichtet an der Uni. Sie hat ihre Studenten in die Veranstaltung geschickt und bedankt sich überschwänglich. Sie hätte nicht gewusst, was das Publikum an diesem Abend erwarten würde und war in Sorge, wie es ihren Studenten gefiele. Die seinen begeistert gewesen, hätten nach der Veranstaltung vor dem Kino gestanden und noch lange diskutiert. Mehrere Studenten seinen zu ihr gekommen und hätten sich bedankt. Sie solle ihnen unbedingt Bescheid geben, wenn wieder so etwas stattfinden würde!

Olga Drossou hat recht. Es ist an diesem Abend nichts neues gesagt worden. Doch die Wirtschaftskrise in Griechenland stellt das Lebenskonzept der meisten Menschen in Frage. Das löste ein Trauma aus und was sollte helfen, mit diesem Trauma umzugehen, als darüber zu sprechen?

Für mich ist spannend zu sehen, dass die jungen Leute begeistert waren. Sie sind es, die die Karre aus dem Dreck ziehen müssen. Auf die jungen kommt es an, diejenigen, die in der Lage sind, mit einem neuen “Mentality” (wie es Charis, einer der Protagonisten in GELD.GR ausdrückt) in die Zukunft zu gehen, denn die alten Strukturen tragen nicht mehr.

Theoretisch ist alles längst besprochen, alles betrachtet, alles gesagt. Frau Drossou (die ich, nicht nur für Ihre Direktheit sehr schätze) hat wohl begriffen, wo die Probleme liegen, wenn nun noch das Volk begreifen würde…

Die Jugend scheint niemand zu fragen. Es wird über ihre Köpfe hinweg diskutiert. Korsakow bringt die Zuschauer mit auf die Bühne. Jedes einzelne Hirn ist gefragt. Ein kleiner Laserpointer in der Hand, ein wenig mehr Mitsprache, die Kanäle offen für die Gedanken des Publikums.

Die jungen Menschen haben es dankbar angenommen. Die Möglichkeit, dass mit ihnen diskutiert wird. Auf hohem Niveau. Und nicht über ihre Köpfe hinweg.

Jeder ein Künstler

Welch saudummer Slogan: “In jedem steckt ein Künstler”. Vielleicht steckt sogar in jedem ein Künstler, aber dann sicherlich nur in dem Maß, in dem in jedem ein Steuerberater steckt, oder ein Fernsehdirektor. Der Rest ist Arbeit. Natürlich kann jeder ein Bild malen. Oder ein Foto machen. Oder Worte zu Parier bringen. Oder ein Lied singen.

Jeder ist ein Künstler?

Und so, wie Eltern die Kritzeleien ihrer Kinder anschauen und Genialität hineinsehen, haben wir und angewöhnt, all den Mist, der ununterbrochen fabriziert wird, fasziniert zu betrachten und die wundervolle Vielfalt zu bewundern. Und es fällt uns gar nicht mehr auf, dass dabei ein schrecklicher Brei herausgekommen ist. Hässlich und uninspiriert, weil nur bunt aber bedeutungslos.

Was macht einen Künstler aus?

Der Künstler braucht die nötigen Ressourcen, sich lange und intensiv mit einem Thema zu beschäftigen und das, ohne am Anfang zu wissen was – und ob – am Ende etwas brauchbares herauskommt. Das hat er mit einem Grundlagenforscher gemeinsam, im Gegensatz zu einem Ingenieur (der ganz und gar zielorientiert arbeitet).

Weil sich die Gesellschaft aber angewöhnt hat, so viele als Künstler zu sehen, sind die Ressourcen, die jedem einzellnen Künstler zu Teil werden, immer kleiner geworden.

Es geht nicht darum, den ‘besten’ Künstler zu finden, um diesem dann die Ressorcen zu geben. Es geht darum, irgendjemanden zu haben, der den Job macht. Der bereit ist, sich in jahrelanger, mühseliger und bisweilen niederschmetternd frustrierender Kleinarbeit mit einem Thema zu beschäftigen, ohne zu wissen, ob die Arbeit irgendwann Sinn machen wird. Jemand muss diese Grundlagenforschung betreiben! Und die künstlerische Grundlagenforschung muss mit den nötigen Ressourchen ausgestattet sein, genauso wie jeder Forscher die nötigen Ressourcen braucht, um vernünftig arbeiten zu können.

Statt dessen zieht sich die Gesellschaft ein Heer von schlecht ausgebildeten, schlecht ausgestatteten, hochabitionierten Kleinkünstlern heran, die alle nur wild durcheinanderplappern. Es ist ein furchtbarer Krach.

Lächerlich

Mein Musiklehrer auf dem Gymnasium dachte, dass an uns Bauernbengeln ohnehin Hopfen und Malz verloren sei. Und so unternahm er gar nicht erst den Versuch, uns Musik nahezubringen. Musik, das war für ihn klassische Musik und er machte seinen Unterricht in unserer Klasse nur für eine Person. Claudius Christl spielte Klavier und galt als musikalisches Wunderkind. Zumindest in meiner kleinen Welt. Das machte Claudius für mich völlig inakzeptabel, und ich bedauere meine damalige Dummheit noch immer, denn mit den anderen Bauernbengeln verstand ich mich auch nicht.

Woran Bob Marley gestorben sei, hatte ein Mitschüler meinen Musiklehrer gefragt. “Bob Marley? An Drogen”. Bob Marley war an Krebs gestorben und so war von da an alles, was mein Musiklehrer über Musik sagte, falsch. So ging die klassische Musik an mir vorbei. Und auch das bedauere ich.

Mein Musiklehrer war ein lustiger alter Mann. Und es war ihm völlig egal, was wir (und vielleicht auch unsere Eltern) über ihm dachten. Er war um seinen Ruf nicht besorgt. Das hat mir imponiert. Um uns zu unterhalten, hat er bei jeder Gelegenheit Kniebeugen gemacht. Wenn jemand eine Frage richtig beantwortete: 10 Kniebeugen. Bei der zweiten richtigen Antwort 20 Kniebeugen. Dann 30. Und die Kinder lachten. “Ihr lacht”, sagte mein Musiklehrer “und ich mache Kniebeugen. Und das ist gesund.”

“Wenn das Publikum lacht, dann war der Künstler erfolgreich” hat er einmal gesagt. Dieser eine Satz hat meinen Musiklehrer zu einem großartigen Lehrer gemacht.

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