Narren haben eine klare Meinung

Es gab eine Zeit, da galt als Narr der, dem alles egal war. Der auf dem Kanapee lag und Gott einen guten Mann sein liess. “Das sollen die Affen in München entscheiden, dazu bin ich zu blöd”, das ist so ein Satz, der mir aus dieser Zeit im Gedächtnis geblieben ist. (Im Original eher so: “Des solln die Affn in Minga ausmachn, dazu bin i’z bleed”.)

Heute zeichnen sich Narren dadurch aus, dass sie auch bei den kompliziertesten Themen eine ganz klare Meinung haben. “Es ist doch offensichtlich, dass… “ ist so ein typischer Satzanfang, an dem man den modernen Narren erkennen kann. Moderne Narren werden ausserdem nicht müde zu betonen, dass das, was sie sagen, nicht gesagt werden darf, vor allem nicht in den Medien. Dabei wird ständig in den Medien darüber berichtet, was die Narren denken, was die Narren sagen und es wird spekuliert wozu es wohl führen könnte, was die Narren tun.

Früher, als man noch nicht so viel Aufmerksamkeit auf die Narren gerichtet hat, schienen Narren ganz gut gelaunte Zeitgenossen zu sein. Wenn man sie so anschaute sahen sie zufrieden aus, so als könnten sie der Situation, in der sie sich befanden, auch etwas gutes abgewinnen. Moderne Narren hingegen haben wutverzerrte Gesichter. Sie toben und schreien und beschimpfen die, die ihnen Mikrofone hinhalten. Die Narren behaupten, dass die mit den Mikrofonen ohnehin nur lügen und ausserdem Marionetten seien. Das ist auch wieder so ein närrisches Bild, denn Marionette können nicht lügen, wenn, dann lügt der Marionettenspieler, oder aber wir befinden uns in einem Märchen, in einer Geschichte, in der alles auf ein Ziel hinausläuft, in dem alles eine große Verschwörung ist.

Narren lassen sich erkennen, an den Worten, die sie benutzen, wenn sie ihre Geschichte von der Welt erzählen. Narren übertreiben ständig, sie sagen ‘immer’ statt ‘oft’, ‘alle’ statt ‘viele’, sie sagen ‘Volk’ statt ‘wir’.

Die Sätze der Narren sind voll von Begriffen wie ‘Weltordnung’, ‘Öl’, ‘Waffen’, ‘die Medien’, ‘die Massen’, ’die wahre Macht’, ’der Markt’, ’Regierung und Politiker sind Schauspieler’, ’internationale Hochfinanz’, ’global vernetzte Bankenmafia’, ’absolut’, ’angedeutet’, ’Ausnahmezustand’, ’Notstand’, ’Weltfinanzsystem’, ’Weltwirtschaft’, ’flächendeckend’, ’befehlen’ (die anderen, den Narren), ’Hysterie’, ’Medienmaschine’, ’Fakt ist’, ’Kollateralschaden’, ’Zusammenbruch’, ’Politik und Medien’, ’die eigentliche Gefahr’, ’kühlen Kopf’ (der der Narren), ’bewahren’, ’die eigentliche Gefahr’, ’Finanzblase’ (’völlig aufgebläht’), ’nichts’, ’in den Schatten stellen’, ’Spieltisch der Hochfinanz’, ’Risiko’, ’Geschäfte auf Kosten der Allgemeinheit’, ’ganz simpel’, ’die Verantwortlichen’, ’die Politik’, ’noch immer’, ’die Realwirtschaft’, ’Spekulationsblase’, ’die sogenannte Globalisierung’, ’alles mit allem’, ’hat sich erwiesen’, ’ungebremst’, ’kein Staat der Welt’, ’Lawine’, ’Zinsen’, ’Schulden’, ’auf Pump’, ’man hätte damit rechnen müssen’, ’die Macht der Hochfinanz’, ’die Politik tat (tut) nichts’, ’im Gegenteil’, ’ungedeckt’, ’den Kopf in den Sand stecken’, ’als würde die Party immer so weitergehen’, ’war bekannt’, ’vorsätzlich verdrängt’, ’alles auf eine Karte setzen’, ’immer’, ’alles’, ’sämtliche’, ’wir’, ’skrupellos’, ’skrupelloses Finanzsystem’, ’tatsächlich’, ’eigentlich’, ’real’, ’Gefahr’, ’verdrängen’, ’behauptet’, ’in Wahrheit’, ’extreme Massnahmen’, ’Rettung des Kasinokapitalismus’, ’der Tropfen der das Fass zum überlaufen bringt’, ’missbraucht’, ’real existierende Wirtschaftspolitik’, ’unter Merkel’, ’Pharma’, ’Sklaven der Hochfinanz’, ’Getriebene’ ect.

Die Narren sprechen von Systemen als seien es Personen ‘das globale Finanzsystem befiehlt…’ und schreiben den Systemen Willen zu, so als ob da jemand wäre, der mit einer Stimme sprechen könnte. Diese System-Personen verfolgen einen bösen Plan, den aufzudecken sich die Narren zur Aufgabe gemacht haben. Ganz so, wie der Held eines Films, der früher als die anderen erkennt, was der Plot der Geschichte ist – das Ziel, auf das alles hinausläuft. Und wie im Film ist nichts zufällig, hat jedes Detail Bedeutung im Kampf von Gut und Böse.

Die Narren übersehen, dass die Welt kein Film ist. Die Welt ist unendlich viel komplexer als jede Geschichte. Der Mensch hat Geschichten erfunden als Vereinfachung der komplizierten Welt. Der Narr verwechselt die Welt mit den Geschichten, die man sich erzählt.

Wenn es dem Narren wenigstens dabei gut gehen würde. Doch der Narr ist ausser sich vor Wut. Er erzählt sich die Welt in Geschichten doch es funktioniert hinten und vorne nicht. Man könnte denken der Narr würde aufgeben, würde sich wieder aufs Kanapee legen und Gott einen guten Mann sein lassen. Vielleicht passiert irgendwann sogar. Doch im Moment sieht es nicht danach aus. Die Narren werden immer fuchsiger, weil die Welt sich an keinen Plan hält und die Narren ständig wieder überrascht werden. So als würde die System-Person immer wieder eine neue Wendung aus dem Hut zaubern. Das bestärkt die Narren noch mehr in ihrem Glauben, es mit einem besonders mächtigen Gegner zu tun zu haben. Dabei ist die Welt nur das, was sie immer schon war: komplex.

STORIES ARE VIRUSES

Hundreds of protesters gathered outside the residence of Minnesota’s governor on Friday to protest lockdown.

The New York Times April 18, 2020

That’s the kind of story the news likes to tell. It’s a great story because it’s unusual and disturbing at the same time.

Unusual because we should all have understood by now what this virus is all about and why and how we should help to contain its spread. Disturbing, because there are people who see it differently, express it militantly and thus again become a danger to everyone.

Somewhere in the USA, where not only the brightest lights live, hundreds (and on the pictures it looks more like hundred than hundreds) of the most stupid apes have gathered, waving blue-white-red flags and doing hullabaloo. They protest that the lockdown will be lifted. They demand their normal life back.

This is stupid for two obvious reasons.
1. as long as a larger part of society is afraid of a contagious disease, which can best be protected from by renouncing normal life, there will be no normal life.
2. it is a stupid idea to form a group with 100 others at times when a contagious virus is circulating.

In the sense of the opponents of the lockdown, an information campaign would make more sense, which explains to the people that their worries are completely unfounded because… And exactly this “because” is what is lacking. Because there are no good arguments. (The “argument” of the lockdown plunges many people into a shitty situation is not an argument, it is an observation).

Putting yourself in a group of 100 people at the moment is also pretty stupid, because it increases the risk of getting infected with the virus (even if you don’t believe in it). But this demonstration is unlikely to result in its participants becoming infected. The larger the group of people, the more likely they are to be infected, but for this relatively small group, the probability is not too high.

So most likely these idiots will not be infected, but they will probably use this as a way to “prove” how exaggerated the fear is. (Strictly speaking, they are just proving how bad their understanding of probability is, but that is nothing unusual, because humans in general are terribly bad at grasping probabilities intuitively (see Kahneman, “Thinking, Fast and Slow”).

The danger is high, however, that they will give others stupid ideas.

The perfidious thing about the story of the events, like the demonstration of the stupid monkeys in Minnesota, is that telling the story leads to many more people getting similarly stupid ideas. If 1000 times 100 people meet and wave flags, then we will almost certainly have a Super Spreader Event. That will actually have an impact.

So the only really scary element in the story of the demonstration of the stupid monkeys is the fact that we tell it to each other – and spread it by telling it.

In fact, the story is like the Corona virus itself. Anyone who tells the story transmits the virus. Most people don’t get sick.If someone gets sick, one symptom of the illness is that they go out into the street, form groups with others, wave flags and shout “Freedom!

By the way, this is the same with all stories. (The symptoms of the respective illness are very different and in most cases completely harmless).

Stories are viruses.

 

GESCHICHTEN SIND VIREN oder EIN SCHÖNES BEISPIEL, WIE DAS EXTREME GESCHICHTEN-ERZÄHLEN DIE REALITÄT UNGÜNSTIG BEEINFLUSSEN KANN

Hundreds of protesters gathered outside the residence of Minnesota’s governor on Friday to protest lockdown.

nytimes.com am 18.4.2020

Das ist so eine Geschichte, wie sie gerne in den Nachrichten erzählt wird. Es ist eine geile Geschichte weil sie ungewöhnlich und gleichzeitig verstörend ist.

Ungewöhnlich, weil wir doch mittlerweile eigentlich alle verstanden haben sollten, was es mit diesem Virus auf sich hat und warum und wie wir aus eigenem Interesse mithelfen sollten, seine Verbreitung einzudämmen. Verstörend, weil es da Leute gibt, die es anders sehen, es militant zum Ausdruck bringen und damit wiederum eine Gefahr für alle werden.

Irgendwo in den USA, wo nicht nur die hellsten Leuchten leben, haben sich 100te (und auf den Bildern sieht es eher aus wie hundert, als mehrere hundert) der allerdämlichsten Affen versammelt, schwingen blau-weiss-rote Fahnen und machen Rambazamba. Sie protestieren, dass der Lockdown aufgehoben wird. Sie fordern ihr normales Leben zurück.

Das ist gleich aus zwei offensichtlichen Gründen dämlich.
1. Solange ein größerer Teil der Gesellschaft Angst vor einer ansteckenden Krankheit hat, vor der man sich am besten schützt, wenn man auf sein normales Leben verzichtet, wird es kein normales Leben geben.
2. Es ist eine blöde Idee, sich in Zeiten, in denen ein ansteckender Virus umgeht mit 100 anderen Affen dicht gedrängt in einer Gruppe zusammen zu stellen.

Im Sinne der Gegner des Lockdowns, wäre also eine Informationskampagne sinnvoll, die den Leute erklärt, dass deren Sorgen völlig unbegründet sind weil… Und genau an diesem “weil” hapert es. Denn es gibt keine guten Argumente. (Das “Argument” der Lockdown stürze viele Leute in eine beschissene Situation ist kein Argument, es ist eine Feststellung).

Sich derzeit in eine Gruppe von 100 Menschen zu stellen ist ausserdem ziemlich blöd, weil es die Gefahr erhöht, sich mit dem Virus anzustecken (selbst wenn man nicht daran glaubt). Diese Demonstration wird aber wahrscheinlich nicht dazu führen, dass sich ihre Teilnehmer anstecken werden. Die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken steigt zwar, je grösser eine Menschengruppe ist, aber bei dieser doch relativ kleinen Gruppe liegt die Wahrscheinlichkeit nicht allzu hoch.

Also höchstwahrscheinlich werden sich diese Deppen nicht anstecken, wahrscheinlich werden sie das dann aber anführen, um zu “beweisen”, wie übertrieben die Angst sei. (Streng genommen beweisen sie damit lediglich, wie schlecht ihr Verständnis von Wahrscheinlichkeit ist, das ist aber nichts ungewöhnliches, denn der Mensch ist allgemein wahnsinnig schlecht darin, Wahrscheinlichkeiten intuitiv zu erfassen (vgl. Kahneman, “Thinking, Fast and Slow”).

Die Gefahr ist allerdings hoch, dass sie damit wieder andere auf dumme Ideen bringen.

Das perfide and der Geschichte von den Vorkommnisse, wie der Demonstration der dämlichen Affen in Minnesota ist, dass das Erzählen der Geschichte dazu führt, dass noch viel mehr Leute auf ähnlich dämliche Ideen kommen. Wenn sich dann 1000 mal 100 Leute treffen und Fähnchen schwingen, dann haben wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Super Spreader Event dabei. Das hat dann tatsächlich Auswirkungen.

Insofern ist das einzige wirklich gruselige Element an der Geschichte von der Demonstration der dämlichen Affen, die Tatsache, dass wir sie uns erzählen – und mit dem Erzählen verbreiten.

Tatsächlich verhält es sich mit der Geschichten so wie beim Coronavirus selbst. Jeder, der die Geschichte erzählt überträgt den Virus. Die meisten werden nicht krank. Wenn jemand erkrankt ist ein Symptom der Erkrankung, dass diese Person dann auf die Strasse geht, sich in Gruppen mit anderen zusammenstellt, Fahnen schwenkt und “Freiheit!” ruft.

Das verhält sich übrigens bei allen Geschichten so. (Die Symptome der jeweiligen Erkrankung sind dabei höchst unterschiedlich und in den allermeisten Fällen völlig harmlos).

Geschichten sind Viren.

Eine gruselige Geschichte

Der Ted Talk von Simon Sinek ist eine gruselige Geschichte. Der 8 Jahre alte Ted-Talk “How great leaders inspire action” von Simon Sinek spricht mir einerseits aus dem Herzen, doch gleichzeitig wird mir fast körperlich schlecht.

Simon Sinek beschreibt, was einen erfolgreichen Innovator ausmacht. Welche Fragen er sich in welcher Reihenfolge stellt und warum diese Reihenfolge wichtig ist und Erfolg nach sich zieht.

Ich denke an Donald Trump. Die Figur Trump stellt sich genau so dar: als erfolgreicher Innovator, der völlig von dem überzeugt ist, was er sieht. Und genau diese Qualität macht ihn für viele Menschen so überzeugend. Doch Donald Trump ist leider kein erfolgreicher Innovator, seine Ideen sind langfristig höchstwahrscheinlich sehr, sehr schlecht (nach allem, was die überwiegende Meinung von Experten ist). Doch das faszinierende: Trump scheint sich selbst fest zu glauben, mit jeder Faser seines Selbst. Seine Überzeugtheit macht ihn so überzeugend.

Es ist fast so, als hätte Trump und auch die Trump-Wähler den Ted-Talk von Simon Sinek gesehen. Denn sie verhalten sich genau nach seinen Regeln. Das ist natürlich unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist, dass Simon Sinek 2010 ein Muster erkannt hat, das damals im Entstehen war.

Ich habe das Muster damals auch gespürt ( wenngleich nicht so gut beschrieben, mein Versuch hier: Die Welt ist eine Wolke ).

Der Ted Talk von Simon Sinek ist eine schöne Geschichte. Wenn man sie als Inspiration nimmt und sich damit in die Lage versetzt, aus einem anderen, vorher unbekannten Blickwinkel die Dinge sehen zu können – dann bringt einen die Geschichte im Denken weiter. Denn dann ergänzt der neue den alten Blickwinkel und man kann nun nicht mehr nur aus einer, sondern aus zwei Perspektiven sehen. Das ist der erste Weg.

Der zweite Weg ist, wenn man denkt, die neue Geschichte sei wahr. Dann glaubt man sie einfach und bleibt im Grunde das, was man auch vorher schon war: ein Gläubiger. Man ändert nur seinen Glauben. Man glaubt nicht mehr an die eine Geschichte, sondern an die andere. Man ändert den Blickwinkel und anstatt die Sachen so zu sehen, wie man sie vorher gesehen hat, schaut man sie nun aus der neuen Perspektive an. Man hat die Perspektiven geändert (immerhin!) – aber man hat keine Perspektive hinzugewonnen.

Beim ersten Weg hat man also eine Perspektive mehr während sich beim zweiten Weg die Anzahl der Perspektiven nicht ändert. Man mag  überzeugter sein, nun die Wahrheit zu kennen. Weil man auf dem zweiten Weg eine alte Wahrheit mit einer anderen, einer vermeindlich besseren, ersetzt hat.

Auf dem ersten Weg muss man hingegen lernen, dass es eine Wahrheit nicht gibt und das ist nicht einfach. In der Folge sieht man einerseits unschärfer doch andererseits klarer. Unschärfer, weil man nicht mehr nur Schwarz und Weiß, sondern auch in Grautönen sehen kann. Das Bild, das man sehen kann ist nicht mehr so kontrastreich, doch es ist näher an der Realität.

Vermutlich sind die meisten Trump Wähler den zweiten Weg gegangen: Das würde erklären, warum sie offenbar überzeugter wurden, als sie es waren und scheinbar gleichzeitig das geblieben sind, was sie immer schon waren: Gläubige, die die Welt nur aus einer Perspektive wahrnehmen können.

Mir wird fast schlecht, wenn ich den Ted Talk von Simon Sinek nach all den Jahren erneut sehe, denn es kommt mir der Verdacht, dass die selben Gedanken, die mein Denken vielschichtiger werden liessen, auch dazu führen konnten, dass Menschen noch engstirniger wurden.

Es ist nicht eine Geschichte, die verändert. Es ist die Lehre, die man daraus zieht.

Relevanz vs. Reichweite

Vor 20 Jahren, als ich an der der Kunsthochschule studierte, wurde mir beigebracht, nach Qualität zu streben. Doch was ist Qualität? Qualität wurde von Experten beurteilt, die ihr Wissen aus langer Erfahrung oder aus Büchern hatten. Von dem was populär war, was bei vielen ankam, sollte man sich fern halten.

Heute ist es offenbar ganz umgekehrt. Qualität ist definiert als das, was populär ist, was bei möglichst vielen, möglichst gut ankommt. Von dem, was Experten sagen, basierend auf alter Erfahrung oder Wissen aus Büchern, hält man sich heutzutage besser fern.

Wie misst man Qualität, zum Beispiel von künstlerischer oder journalistischer Arbeit? Wozu das Streben nach Qualität? Und wie ist Qualität überhaupbt definiert?

Ziel ist Relevanz und Einfluss. Je höher die Qualität, desto größer die Relevanz. Und hohe Relevanz ist Voraussetzung fürEinfluss.

Qualität wird heutzutage gerne in Popularität gemessen, in dem Glauben, größere Popularität führe zu mehr Einfluss. Doch das lässt sich mit einem einfachen Gedankenexperiment widerlegen, ein Gedankenexperiment, dass ich schon vor vielen Jahren formuliert habe, als das Fernsehen noch wichtiger war, als heute: Wenn ein Dokumentarfilmemacher einen Film macht, über einen Missstand in unserer Gesellschaft und dieser Film wird nur einem einzigen Zuschauer vorgeführt, z.B. einem Minister, der dann ein Gesetz anstößt, das diesen Missstand behebt, ist dieser Film dann erfolgreich?

“Nein!” ist die klare Antwort, wenn man den Erfolg eines Films in Zuschauerzahlen misst. Dieser angenommene Film hatte nur einen einzigen Zuschauer – den Minister. In wieweit der Film die Gesellschaft beeinflusst, in diese Richtung wird noch nicht einmal geschaut. Auf Grundlage von Zuschauerzahlen (ich habe bereits früher beschrieben, wie es kommt, dass sich die Menschen im Fernsehen so gerne von Zuschauerzahlen blenden lassen) wird die Qualität z.B. von Fernsehprogrammen evaluiert, in der Folge werden Programme dann so ausgerichtet, dass sie im Schema der Qualitätsvorgabe (= möglichst viele Zuschauer) möglichst erfolgreich sind. Mit diesem Rezept hat sich Fernsehen, wenn es darum geht, die Gesellschaft voranzubringen, über die Jahre komplett irrelevant gemacht.

Die Vermessung der Qualität in Popularitätder selbe gefährliche Unsinn – wird nun in noch viel größerem Maß im Bereich Social Media betrieben. Das ist gefährlich, denn das, was wir als Macher von Medien den Menschen zum Konsum geben, formt die Zukunft. Die Menschen, die sich mit diesem Quatsch beschäftigen, die Ihre Hirne mit diesem Quatsch formen, können nur mehr in diesen Formen denken. Das Ergebnis ist die Wahrnehmung in Extremen gepaart mit dem Glaube an die einfache Lösung. Dieses Denken führe ursächlich u.a. zur Wahl von Trump in den USA, dem Brexit, der AFD im Bundestag.

Doch noch viel mehr, als die Konsumenten, sind die Produzenten gefährdet. Die Social Media Producer. Sie üben sich tagtäglich, ihre Gedanken in die rigiden Formen von Facebook, Twitter & Co zu pressen; permanent überwacht vom unmittelbaren Belohnungs- und Bestrafungs-System der exakt vermessenen Klickzahlen und Interaktionen . So werden die talentiertesten jungen Journalisten der neuen Generation gnadenlos in das System gedrückt, ein System, das das Denken der Macher wie der User einzwängt, vermutlich ohne dass sie es merken. Denn sie kennen es nicht anders.

Die Menschen in einer Demokratie im Denken in Extremen zu schulen ist offensichtlich gefährlich. Die Gefahr ist nicht mehr abstrakt. Der oberste extreme Denker hat derzeit seinen Daumen über dem Knopf für die nukleare Auslöschung der Menschheit. Eine Vorstellung die uns alle beunruhigen sollte.

Dinge, die neu sind, die das Potential haben, der Zukunft eine andere Richtung zu geben, können im Entstehen gar nicht populär sein. Denn sie sind neu und im Moment des Entstehens gerade erst ein wenig mehr als unbekannt.

Wir brauchen diese neuen Dinge/Gedanken/Ideen. Es geht vermutlich um nicht weniger als um unser aller Überleben. Doch wir werden das Neue nicht finden, wenn wir die Qualität jeder Idee unter dem Gesichtspunkt der Popularität beurteilen. Es ist wie der Witz vom Mann, der nachts seinen verlorenen Haustürschlüssel sucht. Er kriecht auf allen Vieren unter einer Strassenlaterne. Er weiss, dass er den Schlüssel dort unmöglich verloren haben kann – doch unter der Lampe ist das Licht besser.

Das Licht – das sind die messbaren Reaktionen der Zuschauer. Die gibt es, keine Frage, sie lassen sich auch sehr gut abbilden. Doch sind die Zahlen, nur weil sie sich exakt messen lassen, deshalb auch relevant? Mit Sicherheit nicht.

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