Über die Kunst, Regeln zu brechen

Ein junger Mann, der Film studiert hat, macht einen Dokumentarfilm. Der Film handelt von einen Protagonisten, worüber es sonst in dem Film geht, ist hier unwichtig. Der junge Mann macht den Film so, wie es sich gehört, wenn man einen richtigen Film macht – so, wie er es an der Filmhochschule gelernt hat.

Doch der Protagonist, der nicht an einer Filmhochschule studiert hat, hält sich nicht an die Regeln. Er spielt nicht mit, vielleicht weil er es nicht kann, oder nicht will, oder weil er die Regeln gar nicht kennt. Die Talente des Protagonisten sind nicht in der Art, dass sie ihn für einen guten Protagonisten prädestinieren. Zumindest nicht für einen Film, nach den Regeln der Kunst, wie sie derzeit gelehrt werden.

Das bereitet dem jungen Filmemacher, der einen guten Film machen will, einiges Ungemach. Immer wieder versucht er den Protagonisten in die Rolle zu drücken, die er in der Geschichte spielen soll. Es mag nicht recht gelingen.

Vermutlich eignet sich der Protagonist nicht, als Protagonist in einem Dokumentarfilm. Der Filmemacher fragt sich, ob er das, als guter Filmemacher, nicht schon vorher hätte sehen müssen. Dann hätte er die Kamera gar nicht erst auf den Menschen gerichtet, der damals noch kein Protagonist war. Das hätte den Filmemacher vor dem Problem bewahrt, das ihm jetzt Kopfschmerzen bereitet.

Doch irgendwas hatte den Filmemacher an diesem Menschen interessiert und vielleicht war es trotz, sogar gerade weil sich dieser Mensch nicht von den Regeln bändigen liess. Den Filmemacher reizte die Herausforderung, die ihm jetzt Sorge bereitet, weil er nun vor Augen hat, dass er daran scheitern könnte. In seiner Not wendet er die Regeln der Kunst noch rigider an, versucht es wieder und wieder, doch der Protagonist lässt sich damit nicht fangen und entschlüpft ein ums andere mal, wie ein Fisch dem Netz des Fischers. Immer wieder schwimmt er zurück in die Freiheit des Uneindeutigen.

Doch nicht der Protagonist ist das Problem, oder dass der Filmemacher es nicht richtig macht. Das Problem ist das richtig-machen an sich. Die Regeln, nach denen man einen Film macht und die vorgeben, über wen man überhaupt einen Film machen kann.

Diese Regeln soll man brechen. Aber es geht nicht darum, grundsätzlich alle Regeln zu brechen. Regeln sind gut. Regeln sind üblicher Weise das, was sich über die Zeit als sinnvoll herausgestellt hat.

Es gibt eine Regel, welche Regeln man brechen soll.

So wie ein Chirurg die Regel bricht, andere Menschen nicht zu verletzen, wenn er Menschen mit einem Messer ins Fleisch schneidet, wenn er sie operiert.

Man muss als Filmemacher dem Protagonisten den Raum geben, den er braucht aber eben auch die Unterstützung, die er benötigt. Woher weiss der Filmemacher welchen Raum er geben, welche Konstruktion zur Unterstützung zu bauen ist?

Der Filmemacher muss sich die Frage stellen: was ist es, was der Protagonist der Welt mitzuteilen hat oder was ist es, was die Welt durch den Protagonisten lernen soll? Dabei darf die Antwort auf diese Frage keine Aussage sein, denn sonst besteht Gefahr, dass der Filmemacher den Protagonisten zum Statisten macht, durch den hindurch er eitel selbst erklärt, was die Welt wissen sollte. Die Antwort auf die Frage, die sich der Filmemacher stellt, muss daher selbst eine Frage sein.

Der Filmemacher muss den Protagonisten unterstützen, diese Frage auf die bestmögliche und klarste Art und Weise zu formulieren. Und jede Regel, die dem entgegensteht, muss gebrochen werden. Alle anderen Regeln der Filmkunst bleiben intakt.

Regeln sind gut, doch wenn sie im Weg stehen muss man sie brechen. Und das gilt für Regeln im allgemeinen, nicht nur beim Filmemachen.

Die besten Zitronen kann man nicht kaufen

Ein Freund hat ein Olivenöl probiert, dass eine Freundin von einem Freund aus Italien hatte. Das war so unglaublich, sagt der Freund. Seitdem fragt er sich, wo es solches Olivenöl zu kaufen gibt. So ein Olivenöl kann man nicht kaufen, antworte ich, man muss es bekommen.

Und so ist es nicht nur bei Olivenöl. Es ist bei vielen Produkten so. Meine Frau liebt Zitronen. Kürzlich hat sie ein paar Zitronen geschenkt bekommen. Von einer Freundin, die hatte die Zitronen von einem Griechen, der die Zitronen selbst gepflückt hatte und dann im Flugzeug aus Griechenland mitbrachte. Man stelle sich vor, was solche Zitronen kosten müssten, wenn man sie mit Geld bezahlen würde. Per Hand im Flugzeug aus Griechenland nach Deutschland getragen, von einem Baum in einem Garten, in dem nur ein Zitronenbaum steht. Gehegt und gepflegt seit mehreren Generationen. Die Zitronen müssten absurd teuer sein. Womöglich gäbe es sogar Leute, die diesen Preis zu zahlen bereit wären. Doch wie müsste ein Verkäufer, der solche Preise nehmen würde gestrickt sein? Sicher nicht auf eine Art, die einen dazu bringt, einen einzelnen Zitronenbaum in einem Garten zu hütet. Sind die Zitronen wirklich so viel besser, als andere Zitronen? Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen muss ich nur meiner Frau, die Zitronen liebt, in die Augen schauen.

Mit meinem Nachbarn habe ich mich über Wein unterhalten. Er ist in einer Weingegend aufgewachsen und hat es mir erklärt. Die kleinen Winzer, die, die den besten Wein machen, trinken den allerbesten selbst. Nur wenn man einen Winzer in der Familie hat, kann man an so etwas herankommen.

Rießig sind die Unterschieden nicht. Die besten Zitronen, die man auf dem Markt kaufen kann, sind fast genauso gut wie die, die der Freund aus Griechenland von Hand pflückt. Aber eben nicht ganz. Ein kleiner Unterschied, der durch keinen Preis zu rechtfertigen ist, den ein Händler guten Gewissens verlangen kann. Und doch ist es ein Unterschied.

Die richtig guten Sachen werden nicht mit Geld gehandelt. Man kann sie vielleicht manchmal tauschen. In der Regel bekommt man sie geschenkt.

Die verdammte Pflicht des Autors

Ziel des verantwortungsvollen Autors muss sein, dem Publikum zu ermöglichen, Verständnis für Zusammenhänge zu bekommen. Dass die Menschen also ein Gefühl für die Komplexität der Zusammenhänge erlangen.

Es darf nicht darum gehen, dem Publikum zu erklären, wie die Dinge funktionieren. Denn das Erklären komplexer Sachverhalte in einfachen Kausalketten macht den Menschen zum Idioten. Denn nur ein Idiot bildet sich ein, zu wissen, wie die Dinge funktionieren.

In der heutigen Welt gibt es niemanden mehr, der selbst allgegenwärtige Dinge in in seiner Komplexität verststeht.

So, wie es niemanden mehr gibt, der etwas so banales wie zum Beispiel ein Auto verstehen kann. In groben Züge vielleicht, das mag dem Idioten genügen, doch bis ins Detail? Bis hin zum chipgesteuertem Bosch Einspritzungdüsensystem?

Oder die Frage, was passiert im Körper, wenn man ein Ei ißt?

Wir wissen zu viel über die Welt, als sich in einer einfachen Wahrheit ausdrücken lässt. Wir wissen zu viel über die Welt, als sich in einer Wahrheit ausdrücken lässt.

Wenn einem jemand gegenübersteht und verkündet, dass er versteht, wie Dinge funktionieren, dann weiß man nur, dass dieser jemand entweder ein Lügner ist, oder  ein Dummkopf.

Der intelligente und verantwortungsvolle Autor ist sich um die Komplexität der Dinge bewusst und behandelt das Publikum nicht wie Idioten.

Das Land der Langeweile ist voll von Erkenntnis

Die Wege des Denkens verlaufen manchmal auf seltsamen Pfaden. Vor Jahr und Tag habe ich einen Text in einem Buch geschrieben. Ein Satz aus diesem Text wurde in einem anderen Buch zitiert, und dieser Satz erneut in einer ‘Kundenrezension’ auf Amazon, auf die ich zufälliger Weise gestoßen bin.

Daraufhin folgender Kommentar meinerseits, auf den Kommentar zum Buch mit Zitat des Zitats (oder so ähnlich):

Ich möchte mich entschuldigen, dass sich mein Kommentar nicht auf das Buch selbst bezieht, sondern auf den im vorangegangenen Kommentar zitierten Satz von Florian Thalhofer. Zufälliger Weise bin ich jener Florian Thalhofer und vielleicht interessiert sich ja jemand für die Geschichte hinter dem zitierten Satz. Denn ursprünglich habe ich geschrieben: “Die Leute sagen, sie finden Korsakow-Filme LANGWEILIG, weil sie nicht verstehen, was ihnen gesagt werden soll.“ Um das Wort “langweilig” gab es dann einige Diskussion mit den Lektoren, offenbar ist das Wort in Verbindung mit “Story” toxisch, wir einigten uns dann auf “anstrengend”.

Ich sehe Geschichten-erzählen nicht nur als Werkzeug um ein Publikum zu fesseln oder zu unterhalten, sondern auch als Werkzeug um ein besseres Verständnis von der Realität zu erlangen. Die Geschichte als Instrument ‘zu verstehen’, nicht ‘zu erklären’.

Da Geschichten nach allgemeinem Verständnis nicht ‘langweilig’ sein dürfen, nimmt man sich ganz viel von den Möglichkeiten der Erkenntnis, die in den Bereichen der langweiligen Geschichte liegen.

‘Ulysses’ von James Joyce ist sicherlich ein langweiliges Buch, nach allen Regeln der Kunst. Nichts desto Trotz wurde es in den Kanon der wichtigen Literatur aufgenommen. Ein Hinweis darauf, dass es Relevanz besitzt. Es ist also möglich, relevante Geschichten jenseits der spannenden Geschichte herzustellen. Ich sage ja nicht, dass man es tun muss. Jeder Autor, jede Autorin kann für sich entscheiden, ob er/sie spannende, fesselnde Geschichten fabrizieren will, oder den Mut aufbringt, sich in Gebiete vorzuwagen, die als ‘langweilig’ gekennzeichnet sind.

Im Bereich des ‘langweiligen’ gibt es viel zu entdecken. Im Bereich des ‘spannenden’ nicht mehr so sehr, denn dieser Bereich ist abgegrast, darin tummeln sich ja bereits die allermeisten Geschichtenerzähler.

“Die Leute verstehen nicht, was ihnen in einem Korsakow-Film gesagt werden soll.” Das ist logisch, denn ein Korsakow-Film will dem Betrachter in der Regel nichts sagen, hat keine Message. Ein Korsakow-Film will es dem Betrachter ermöglichen ‘zu sehen’ und sich selbst eine Meinung zu bilden. In dem Bewusstsein, dass diese Meinung nur eine Meinung von vielen möglichen Meinungen ist.

Ist das langweilig? Ich finde es äußerst spannend!

 

 

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Relevanz vs. Reichweite

Vor 20 Jahren, als ich an der der Kunsthochschule studierte, wurde mir beigebracht, nach Qualität zu streben. Doch was ist Qualität? Qualität wurde von Experten beurteilt, die ihr Wissen aus langer Erfahrung oder aus Büchern hatten. Von dem was populär war, was bei vielen ankam, sollte man sich fern halten.

Heute ist es offenbar ganz umgekehrt. Qualität ist definiert als das, was populär ist, was bei möglichst vielen, möglichst gut ankommt. Von dem, was Experten sagen, basierend auf alter Erfahrung oder Wissen aus Büchern, hält man sich heutzutage besser fern.

Wie misst man Qualität, zum Beispiel von künstlerischer oder journalistischer Arbeit? Wozu das Streben nach Qualität? Und wie ist Qualität überhaupbt definiert?

Ziel ist Relevanz und Einfluss. Je höher die Qualität, desto größer die Relevanz. Und hohe Relevanz ist Voraussetzung fürEinfluss.

Qualität wird heutzutage gerne in Popularität gemessen, in dem Glauben, größere Popularität führe zu mehr Einfluss. Doch das lässt sich mit einem einfachen Gedankenexperiment widerlegen, ein Gedankenexperiment, dass ich schon vor vielen Jahren formuliert habe, als das Fernsehen noch wichtiger war, als heute: Wenn ein Dokumentarfilmemacher einen Film macht, über einen Missstand in unserer Gesellschaft und dieser Film wird nur einem einzigen Zuschauer vorgeführt, z.B. einem Minister, der dann ein Gesetz anstößt, das diesen Missstand behebt, ist dieser Film dann erfolgreich?

“Nein!” ist die klare Antwort, wenn man den Erfolg eines Films in Zuschauerzahlen misst. Dieser angenommene Film hatte nur einen einzigen Zuschauer – den Minister. In wieweit der Film die Gesellschaft beeinflusst, in diese Richtung wird noch nicht einmal geschaut. Auf Grundlage von Zuschauerzahlen (ich habe bereits früher beschrieben, wie es kommt, dass sich die Menschen im Fernsehen so gerne von Zuschauerzahlen blenden lassen) wird die Qualität z.B. von Fernsehprogrammen evaluiert, in der Folge werden Programme dann so ausgerichtet, dass sie im Schema der Qualitätsvorgabe (= möglichst viele Zuschauer) möglichst erfolgreich sind. Mit diesem Rezept hat sich Fernsehen, wenn es darum geht, die Gesellschaft voranzubringen, über die Jahre komplett irrelevant gemacht.

Die Vermessung der Qualität in Popularitätder selbe gefährliche Unsinn – wird nun in noch viel größerem Maß im Bereich Social Media betrieben. Das ist gefährlich, denn das, was wir als Macher von Medien den Menschen zum Konsum geben, formt die Zukunft. Die Menschen, die sich mit diesem Quatsch beschäftigen, die Ihre Hirne mit diesem Quatsch formen, können nur mehr in diesen Formen denken. Das Ergebnis ist die Wahrnehmung in Extremen gepaart mit dem Glaube an die einfache Lösung. Dieses Denken führe ursächlich u.a. zur Wahl von Trump in den USA, dem Brexit, der AFD im Bundestag.

Doch noch viel mehr, als die Konsumenten, sind die Produzenten gefährdet. Die Social Media Producer. Sie üben sich tagtäglich, ihre Gedanken in die rigiden Formen von Facebook, Twitter & Co zu pressen; permanent überwacht vom unmittelbaren Belohnungs- und Bestrafungs-System der exakt vermessenen Klickzahlen und Interaktionen . So werden die talentiertesten jungen Journalisten der neuen Generation gnadenlos in das System gedrückt, ein System, das das Denken der Macher wie der User einzwängt, vermutlich ohne dass sie es merken. Denn sie kennen es nicht anders.

Die Menschen in einer Demokratie im Denken in Extremen zu schulen ist offensichtlich gefährlich. Die Gefahr ist nicht mehr abstrakt. Der oberste extreme Denker hat derzeit seinen Daumen über dem Knopf für die nukleare Auslöschung der Menschheit. Eine Vorstellung die uns alle beunruhigen sollte.

Dinge, die neu sind, die das Potential haben, der Zukunft eine andere Richtung zu geben, können im Entstehen gar nicht populär sein. Denn sie sind neu und im Moment des Entstehens gerade erst ein wenig mehr als unbekannt.

Wir brauchen diese neuen Dinge/Gedanken/Ideen. Es geht vermutlich um nicht weniger als um unser aller Überleben. Doch wir werden das Neue nicht finden, wenn wir die Qualität jeder Idee unter dem Gesichtspunkt der Popularität beurteilen. Es ist wie der Witz vom Mann, der nachts seinen verlorenen Haustürschlüssel sucht. Er kriecht auf allen Vieren unter einer Strassenlaterne. Er weiss, dass er den Schlüssel dort unmöglich verloren haben kann – doch unter der Lampe ist das Licht besser.

Das Licht – das sind die messbaren Reaktionen der Zuschauer. Die gibt es, keine Frage, sie lassen sich auch sehr gut abbilden. Doch sind die Zahlen, nur weil sie sich exakt messen lassen, deshalb auch relevant? Mit Sicherheit nicht.

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