Alles ist Werkzeug – Werkzeug, welches das Denken formt.

Die Dinge formen das Denken, so wie das Denken die Dinge formt.

“Alles ist Werkzeug, das Denken formt?”, mögen Sie fragen, “Wie soll eine Tasse ein Werkzeug sein, das Denken formt?”.

Auf diese Frage lässt sich mit einem einfachen Gedankenexperiment antworten, das sich auf jedes Ding oder jeden Gedanken anwenden lässt, der zu einem früheren Zeitpunkt nicht existierte, also irgendwann einmal erfunden werden musste.

Das Gedankenexperiment funktioniert so:
Stellen Sie sich vor, wie eine Welt aussehen würde, wenn eine bestimmte Sache (ein bestimmter Gedanke) nicht er- oder gefunden worden wäre.

Gedanken bauen aufeinander auf. Jeder Gedanke baut auf früheren Gedanken auf, so wie jede Erfahrung auf früheren Erfahrungen aufbaut. Was für Gedanken und Erfahrungen gilt, gilt auch für Dinge. Wäre eine Sache zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erfunden worden, wären damit auch alle daraus folgenden Dinge nicht erfunden worden oder hätten entstehen können.

(Dieses Phänomen wird oft als Pfadabhängigkeit bezeichnet).

Was bedeutet das für unsere Tasse?
Ohne Tasse keine Möglichkeit, Flüssigkeit zu speichern. Ohne die Möglichkeit, Flüssigkeit zu speichern, keine Möglichkeit, Treibstoff zu speichern. Ohne Treibstoff, kein Auto. Ohne Becher oder Tasse würden wir also in einer Welt ohne Autos leben (und ohne viele andere Dinge, die die Erfindung des Bechers voraussetzen – und das ist: eine Menge).

Alles, was wir heute haben, alles, was der Menschheit derzeit zur Verfügung steht, beflügelt unsere Vorstellungskraft und Kreativität uns mögliche Zukünfte vorzustellen, was natürlich ein erster Schritt ist, um dorthin zu gelangen. Und in diesen Zukünften werden die Menschen wieder neue Dinge erfinden und sich Gedanken ausdenken. Dinge und Gedanken, die dann wiederum die Grundlage für zukünftige Dinge und Gedanken sind.

Genau wie in der Vergangenheit. Wenn Sie auf die Vergangenheit zurückblicken, können Sie sehen, wie ein Gedanke auf anderen aufbaut und wie Gedanken von einander abzweigen, wie Ideen, entstanden sind, die wiederum zu neuen Ideen geführt haben.

Und so wie “keine Tasse” “kein Auto” zur Konsequenz hätte und gleichzeitg wohl auch “keine Tasse” zu “kein Kaffee” geführt hätte, der neben dem Computer steht, auf dem ich diese Worte tippe.

Doch höchstwahrscheinlich hätte “keine Tasse” auch zu “kein Computer” geführt und vielleicht würde es nicht einmal die Worte, oder zumindest jedenfalls viel weniger Worte geben und ganz sicher kein Tippen – denn höchstwahrscheinlich wäre ohne die Erfindung einer Tasse auch das Tippen nicht erfunden worden.

Verlassen wir diese Achterbahn des Gedankenexperiments und kehren lieber zurück in die Überschaubarkeit des Jetzt.

Was sehen Sie vor sich, wenn Sie durch Ihre Augen blicken?

Alle Dinge, die Sie sehen können, lassen sich in eine von zwei Kategorien einordnen.

A) Dinge, die Sie verstehen, und B) Dinge, die Sie nicht verstehen.

Und wenn Sie wie ich sind (oder wie Erwachsenene im allgemeinen), dann sehen sie viel mehr Dinge, die Sie verstehen, als die, die Sie nicht verstehen. Und Verstehen bedeutet nur, dass man mit dem Grad des Verstehens, den man erreicht hat, zufrieden ist. Der Staubsauger zum Beispiel, der neben mir liegt (ich muss ihn irgendwann mal wegräumen) – natürlich verstehe ich nicht wirklich, wie ein Staubsauger funktioniert, (was ich mir auch einfach selbst beweisen könne, wenn ich versuchen würde einen Staubsauger zu bauen), aber ich habe ein allgemeines Verständnis. Ich verstehe nicht die Details und kenne vielleicht nicht einmal alle praktischen Verwendungsmöglichkeiten des Staubsaugers, aber ich bin mit meinem Kenntnisstand zufrieden. Es genügt mir, nicht tiefer zu gehen zu wollen. Meine Einstellung (nicht die Sache selbst) macht diesen Staubsauger zu Teil meines Universums der Dinge, die ich verstehe.

Ich schätze hingegen, was ich nicht verstehe. Andere Menschen zum Beispiel, vor allem diejenigen, die mir nahe stehen.

Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Manche Menschen scheinen bestrebt zu sein, in einer Welt zu leben, die sie verstehen. In der sie ein Maß an Verständnis erreicht haben, mit dem sie zufrieden sind. Diese Welt verteidigen sie auch. Und obwohl ich die Annehmlichkeiten sehe, die das haben kann (zum Beispiel gibt es viel weniger Zweifel), beneide ich diese Menschen nicht. Ich bin ein Suchender, ein Forscher, der wissenschaftliche Werkzeuge und Methoden einsetzt, um besser zu verstehen.

Die Dinge formen das Denken und das Denken formt die Dinge, dieser Loop treibt uns Menschen voran.

Everything is tool – a tool that shapes thinking

Things shape thinking just like thinking shapes things.

“Everything is a tool that shapes thinking?” you might ask, “How is a cup a tool that shapes thinking?”.

This question can be answered with a simple thought experiment, that works for any thing or thought that has not been present at an earlier point in time.

The thought experiment goes like this:
Imagine what the world would look like, if a particular thing/thought has not been invented?

Thoughts build up on each other. Every thought builds up on previous thoughts just like every experience builds up on previous experiences. What goes for thoughts and experiences also goes for things. If one thing would not have been invented at one point in time, then all the consequential things would not have come into existence either. ( -> path dependence).

What does this mean for “cup”:
No cup, no way to store liquid, no way to store liquid, no way to store gas, no gas, no car. So without a cup we would live in a world without cars (and many other things that can be deep-liked back to the invention of the cup – which is: a lot!).

So everything that is here at the moment, everything that humanity currently has available, shapes our imagination and creativity to imagine possible futures, which is – of course – a first step to get there. And in those futures, the people in the future will imagine and come up with new things and thoughts. Things and thoughts that then again build the groundwork for future things and thoughts.

Just like in the past. When you look back at the past you can see how one thought is built on others and how thoughts branch off from on an other, just like an idea that has many implications, just like “no cup” “no car” and also “no cup”, “no coffee” in front of me, next to the computer on which I type these words. And most likely, “no cup” “no computer”, either and maybe not even the words, or at least far fewer words and certainly no typing, because most likely, without the invention of a cup, typing would not have been invented, either.

Let’s get off this rollercoaster of a thought experiment and get back to the comfort of our world now.

So what do you see, when you look through your eyes?

All the things you can see, can be put in one of two categories.

A) Things that you understand and B) things that you don’t understand.

And if you are like me (or most grown ups for that matter) there are far more things in front of you, that you understand, than you don’t understand. And understanding only means, that you are satisfied with the level of understanding, you have reached. The vacuum cleaner for example, that lies next to me (I need to clear it away at some point) –
of course I don’t understand on a deeper level how this vacuum cleaner functions, but I have a general understanding. I certainly don’t understand the details and I might not even know all it’s practical uses, but I am happy with my level of understanding. I don’t want to explore deeper. Only my attitude (not the thing itself) makes this vacuum cleaner part of my universe of things that I understand.

I treasure the things I don’t understand more. Other people for example, especially the ones who are close to me.

I understand that there are people that see this the opposite way. Some people seem to be happy to live in a world, they understand. Where they have reached a level of understanding they are fulfilled with. And nevertheless I can see the comfort this might have (for example there is far less doubt), I do not envy these people. I am a seeker, a researcher using scientific tools and methods to understand better.

Things shape thinking and thinking shapes things.
It is this feedback loop, that propels us humans forward.

Angst

Die Leute haben Angst. Sie ziehen die Rollläden herunter, wenn es dunkel wird und schalten den Fernseher ein. Sie schauen Nachrichten, sie schauen Filme, sie schauen Talkshows, sie schauen Werbung. Überall wird ihnen Angst gemacht. Die Leute haben Angst. Angst vor Verbrechen, Angst um ihre Gesundheit, Angst vor den Auswirkungen der Technik, Angst, etwas zu verpassen, Angst vor dem, was sie nicht verstehen.

Überall wird den Leuten irgend etwas erklärt und wenn die Leute denken, dass sie etwas verstanden haben dann erklärt ihnen jemand, das es doch ganz anders ist.

Wir leben in komplizierten Zeiten. Widersprüchliche Informationen kommen von allen Seiten und jede Information macht sich wichtig, jede Information verlangt Aufmerksamkeit und droht mit Konsequenzen wenn nicht beachtet.

Wer soll sich da noch auskennen?

Wer soll da noch Vertrauen haben? Angst ist kein guter Nährboden für Vertrauen.

Die Leute haben schreckliche Angst und sie wissen nicht wovor. Sie leiden. Sie beklagen sich und schimpfen über ihr Unglück. Leute gehen auf die Strasse und fordern, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Sie sind wütend und fühlen sich machtlos und ohnmächtig.

Man könnte den Leuten sagen, dass ihre Angst unbegründet ist. Es gibt immer weniger Verbrechen, die Menschen werden immer gesünder und wenn doch etwas passiert werden sie medizinisch so gut versorg, wie noch nie. Die Politiker unserer Zeit sind wahrscheinlich die verantwortungsvollsten, die es je gab und Technik bringt viel mehr Vor- als Nachteile.

Aber das wollen die Leute nicht hören. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf das, was bedrohlich sein könnte, wenn sie Fernsehen schauen oder im Internet Informationen auswählen. So als könnten sie nicht anders. So als hätten sie Angst, eine Gefahr zu verpassen.

“Cliche is whatever is in use & whatever is in use is environmental, hence largely invisible.“

from Edmund Carpenter „They Became What They Beheld“

Edmund Carpenter’s sentence sounds like a magic trick. How can you make something invisible in plain sight?

The cliché is the derivative of an original and the original was at some point reality, the world out there, in all its complexity. The original contains the infinity of possible choices that the cliché lacks. Just as a photographic image one looks at is always a retrospective, a glimpse of the image taken at the moment of the moment, a snapshot from the past.

When I look at a picture of me from the past – the possibilities I had then! I could have gone in any direction. And then I went in one direction. And now I’m 49 years old, living as an artist in Berlin, with a job in Switzerland. I could have gone in all kinds of directions, and that includes staying in a small town in Bavaria, like my siblings. Then I would probably still be thinking small-town thoughts today, much like I used to think them.

I would like to ask you to imagine, to visualize this person I am now. An artist who grew up in a small town, went to the big city as a young man and achieved some but not too much success. Imagine this person – that’s me.

That was me around 1995 – you can already see that I will become an artist one day – can’t you?
(But didn’t we all look like that back then?)

That’s a cliché. The image you have in your head now, of an artist, 49 years old, who has gone from small town to big city and from there to places all over the world.

That’s all you need to know about me.

Just maybe this much: You have no idea who I am. You wouldn’t even recognize me on the street and even if you did, you still wouldn’t have a clue who I am.

You have no idea who I am – I don’t know myself. Who am I, who will I be tomorrow, where am I, where will I be tomorrow, in two years?

If you don’t ask yourself these questions, or can answer them easily, then you probably still are in a small town or have returned there, if only in spirit.

I am: just as complex as you are.

You are as complex as you are at this moment, as complex as I am, as complex as any human being. No matter where you live, whether as an artist in Berlin or as a florist in a small town in Bavaria or as a hunter-gatherer in Papua New Guinea.

Take another look at the cliché you have of me in your head.

Can any cliché ever capture all the complexity?

You think you know who I am because you have a cliché in your head, an image and behind that image I can hide. I can become like invisible. What you, what others see, is the cliché, not me.

This also explains an age-old question I carry with me from the small town: why is it so important what the neighbours think?

In the small town, I watched people constantly working on the cliché (the image the neighbours have of you). They literally worked on it, for example by “sweeping the street in front of the house because of the neighbours”. (“Small World”, 1997, begins precisely with this, “Planet Galata”, 2010, with a similar thought).

From “Small World”, 1997

They don’t do that in Berlin. Here there is a road service that everyone pays for together, through their taxes. Now, even in Berlin, we sometimes sweep the street in front of our house. But that’s only because my wife happens to have a shop. In any case, we don’t do it because of the neighbours.

In a small town, the cliché is obviously more important, maybe because you have to hide more. In the big city it’s easier to show yourself as you are because you’re anonymous. You appear briefly and disappear again into the masses. You can’t do that in a small town.

In a small town, you can only be who you are if you hide behind high hedges. Behind the high hedges of the cliché. The high hedges are the image that others have of you. Working on your own image is working on the hedge behind which you can make yourself invisible. This is true not only, of course, but especially in small towns. Just about everyone uses this magic trick in one way or another – consciously or unconsciously.

But with the magic trick comes a curse. Two curses, to be precise.

The first curse:
You are only invisible as long as you stay behind your hedge. Today I’m quite happy with my cliché of the artist in Berlin. I can hide behind it perfectly well. In the past, however, I tried a different cliché: young start-up. That was rather uncomfortable, because I was constantly afraid that people would find out about me, that they would look behind the scenery, that the hedge would practically fall down.

But the real curse is another:
It is a cruel exercise to have the feeling of having to hide all the time. This feeling makes one unfree to a great extent. Unfree, if at some point you no longer dare to come out from behind the hedge. You are then tied to your hedge. And probably for life. The only life you have.

Is that what you want? To be tied down by the image others have of you?

“Cliche is whatever is in use & whatever is in use is environmental, hence largely invisible.“

Aus Edmund Carpenter „They Became What They Beheld“

Der Satz von Edmund Carpenter klingt wie ein Zaubertrick. Wie kann man es anstellen, dass etwas in aller Öffentlichkeit unsichtbar ist?

Das Cliché ist der Abzug eines Originals und das Original war irgendwann die Wirklichkeit, die Welt da draussen, in ihrer ganzen Vielschichtig­keit und Komplexität. Das Original beinhaltet die Unendlichkeit der möglichen Ent­scheidungen die dem Cliché fehlen. So wie eine fotografischen Aufnahme die man betrachtet immer ein Rückblick ist, ein Blick auf das Bild, das im Augenblick des Moments aufgenommen wurde, wie ein Schnappschuss aus der Vergangenheit.

Wenn ich ein Bild von mir aus der Vergangenheit betrachte – die Möglichkeiten, die ich damals hatte! Ich hätte in jede Richtung gehen können. Und dann bin ich in eine Richtung gegangen. Und jetzt bin ich 49 Jahre alt, lebe als Künstler in Berlin, in Kreuzberg in einer Altbauwohnung, mit einem Job in der Schweiz. Ich hätte in alle möglichen Richtungen gehen können und dazu zählt auch in der Kleinstadt in Bayern zu bleiben, wie meine Geschwister. Dann würde ich heute wohl noch Kleinstadt-Gedanken denken, so ähnlich wie ich sie früher gedacht habe.

Ich möchte Sie bitten, sich diese Person, die ich jetzt bin, vorzustellen, vor Augen zu führen. Ein Künstler, in einer Kleinstadt aufgewachsen, als junger Mann in die große Stadt gegangen und zu einigem aber nicht allzu viel Erfolg gekommen. Stellen sie sich dieses Person vor – das bin ich.

Das war ich ca. 1995 – man kann schon er­kennen, dass aus mir mal ein Künstler werden wird – nicht wahr?
(Wobei – sahen wir nicht alle so aus, damals?)

Das ist ein Cliché. Meine Erinnerung ist ein Cliché. Das Bild, das Sie jetzt im Kopf haben, von einem Künstler, 49 Jahre alt, der von der Kleinstadt in Grossstadt und in die ganze Welt gekommen ist.

Mehr müssen die über mich nicht wissen.

Nur vielleicht noch so viel: Sie haben keine Ahnung wer ich bin. Sie würden mich nicht einmal auf der Straße erkennen und selbst wenn sie es täten, sie hätten immer noch keine Ahnung wer ich bin.

Sie haben keine Ahnung wer ich bin – ich weiß es ja selbst nicht. Wer bin ich, wer werde ich morgen sein, wo bin ich, wo werde ich morgen sein, in zwei Jahren?

Wenn Sie sich diese Fragen nicht stellen, oder sich diese Fragen einfach beantworten können, dann leben sie wahrscheinlich immer noch in einer Kleinstadt oder sind dahin zurück­gekehrt und sei es nur im Geiste.

Ich bin: genauso komplex wie Sie.

Sie sind so komplex, wie Sie in diesem Augenblick sind, so komplex wie ich, so komplex wie jeder Mensch. Egal wo sie leben, ob als Künstler in Berlin oder als Blumenhändler in einer Kleinstadt in Bayern oder als Jäger und Sammler in Papua-Neuguinea.

Betrachten sie noch ein mal das Klischee, das sie von mir im Kopf haben.

Kann ein Cliché jemals die ganze Komplexität einfangen?

Sie denken zu wissen wer ich bin, weil Sie ein Cliché im Kopf haben, ein Bild und hinter diesem Bild kann ich mich verstecken. Kann ich wie unsichtbar werden. Das was Sie, was andere sehen, ist das Klischee, nicht mich.

Damit erklärt sich mir auch ein eine uralte Frage, die ich aus der Kleinstadt mit mir herumtrage: Warum ist es so wichtig, was die Nachbarn denken?

In der Kleinstadt habe ich beobachtet wie die Leute beständig am Cliché (dem Bild, das die Nachbarn von einem haben) arbeiteten. Und zwar buchstäblich gearbeitet, indem man zum Beispiel am Samstag vor dem Haus “die Straße zu­sammengekehrt hat, wegen der Nachbarn”. („Kleine Welt“, 1997, beginnt genau damit, “Planet Galata”, 2010, mit einem ähnlichen Gedanken).

In Berlin macht man das nicht. Hier gibt es einen Straßendienst, den alle gemeinsam bezahlen, durch ihre Steuern. Nun kehren wir auch in Berlin manchmal die Straße vor unserem Haus. Aber das ist nur, weil meine Frau zufälliger Weise einen Laden hat. Wegen der Nachbarn machen wir das jedenfalls nicht.

In der Kleinstadt ist das Cliché offenbar wichtiger, vielleicht weil man sich mehr verstecken muss. In der Grossstadt ist es leichter sich so zu zeigen, wie man ist, weil man anonym ist. Man taucht kurz auf und verschwindet wieder in der Masse. Das geht in der Kleinstadt nicht.

In der Kleinstadt kann man nur so sein wie man ist, wenn man sich hinter hohen Hecken versteckt. Hinter den hohen Hecken des Clichés. Die hohen Hecken sind das Bild, das die anderen von einem haben. Die Arbeit am eigenen Bild ist die Arbeit an der Hecke, hinter der man sich un­sichtbar machen kann. Das gilt natürlich nicht nur aber eben besonders in der Kleinstadt. So gut wie jeder wendet auf die eine oder andere Art den Zaubertrick an – bewusst oder unbewusst.

Doch mit dem Zaubertrick geht ein Fluch einher. Genauer gesagt zwei Flüche.

Der erste Fluch:
Man ist nur so lange unsichtbar, solange man hinter seiner Hecke bleibt. Ich bin heute ganz zufrieden mit meinem Cliché vom Künstler in Berlin. Dahinter kann ich mich prima verstecken. Ich hatte mich in der Vergangenheit aber mal an einem anderen Cliché versucht: junges Startup. Das war eher ungemütlich, denn ich hatte ständig Angst, dass man mir auf die Schliche kommt, dass man hinter die Kulisse schaut, dass die Hecke quasi umfällt.

Doch der eigentliche Fluch ist ein anderer:
Es ist eine grausame Übung, wenn man die ganze Zeit das Gefühl hat sich verstecken zu müssen. Dieses Gefühl macht in hohem Maße unfrei. Unfrei, wenn man sich irgendwann nicht mehr hinter der Hecke hervortraut. Damit ist man an seine Hecke gefesselt. Und das wahrscheinlich ein Leben lang. Das einzige Leben lang, das man hat.

Will man das? Gefesselt sein von dem Bild, das andere von einem haben?

Next page