Im Körper

Berlin, Nov. 2013

Man kann noch so viel begriffen haben, es hilft einem nichts. Wenn man das, was man verstanden hat, nicht spürt, es lebt. Zum Beispiel das “im Augenblick sein”. Jeder halbwegs intellektuelle Mensch hat es verstanden. Die Theorie ist klar: Das Glück erschließt sich, wenn man den Augenblick lebt. Wenn man nicht andauernd über die Vergangenheit grübelt oder sich über die Zukunft Sorgen macht. Wenn man sich zum Beispiel die Wolken am Himmel anschaut. Einen Baum, dem der Wind durch die Blätter fährt. You know what I am talking about. Du, der Du diese Zeilen liest, bist auch so ein Intellektueller. Im Augenblick sein! Jetzt. Hier. Einatmen, ausatmen. Hunger? Durst? Wie riecht die Luft? Aber Du hast es ja längst begriffen. Du kennst den Gedanken. Jetzt mal wirklich: Wie riecht die Luft?

Intellekt ist was schönes. Aber was hilft es, wenn es die Welt nicht fühlen lässt, sondern nur begreifen? Begreifen kann ein erster Schritt sein, aber wenn man das Begriffene nicht erlernt, es nicht so lange übt, bis man es automatisch macht, ist es wertlos. Das Sammeln theoretischer Gedanken unterscheidet sich nicht sehr dem Sammeln von Briefmarken.

Ich habe eine Hexe kennengelernt. Die hat mir gezeigt, dass ich einen Körper habe. Dass ich nicht nur in einem Körper lebe, sondern dass ich ein Körper bin. Ein Körper, der denkt. Nicht ein Denken, das in einem Körper steckt. Die Hexe und ich, wir üben es immer wieder und die Erfahrung ist ein ums andere mal spektakulär: Ich bin ein denkender Körper. Und ein ums andere Mal verschwindet das Fühlen nach einiger Zeit wieder und ich rutsche zurück ins Denken. Ich denke dann wieder und fühle kaum mehr.

Wie fühlen sich meine Fingerspitzen an, wenn sie die Tasten des Computer-Keyboards nach unten schlagen? Und seltsam, wenn ich mir dessen bewusst werde, lenkt es mich nicht von meinen Gedanken ab, im Gegenteil. Es lässt meine Gedanken fließen. Aber ich muss aufpassen, denn meine Gedanken sind bereits dabei, meine Aufmerksamkeit zu übernehmen. Meine Gedanken schmieren meine Leben zu. Wie weiße Farbe über eine Fensterscheibe. Gedanken sind das, was wir aus der Welt machen. Die Welt ist alles, was denkbar ist, doch das, was wir denken, ist das Gefängnis, in dem wir leben.

Elissavet hat geträumt. Von Männern aus der Antike.

Berlin, Juni 2013

“Von Griechen?”, frage ich (Elissavet ist Griechin).
“Nein, von Römern”, sagt sie.

“Aber die Römer, sind doch gar nicht die echte Antike. Die Griechen haben die Antike erfunden und die Römer haben sie dann nachgemacht. Das ist gar nicht echt”, sage ich ernst und meine es als Witz.

Elissavet strahlt aus tiefstem Herzen: “Das musst Du mal sagen, wenn richtig stolze Griechen da sind, die werden Dich lieben!”.

Ich sage es noch mal, um schon mal zu üben:
“Die Griechen haben die Antike erfunden, die Römer haben sie nur kopiert. Die Antike der Römer ist gar nicht echt.”

Elissavet strahlt. Sie ist glücklich. Ich sehe es ihr an, wenn sie glücklich ist.

“Wahnsinn,” sagt sie “es funktioniert!” und nach einer Pause: “unglaublich, was ich da in mir habe, was mir mitgegeben wurde, von meinen Eltern, von meiner Erziehung. Und wie anfällig es mich macht, Dinge zu glauben, die in dieses Muster passen.”

“Und wie schön es ist, Sachen zu erzählen, die die Leute hören wollen, auch wenn es Quatsch ist” sage ich.

Einen Zeit lang stehen wir schweigend im Flur unserer Wohnung, und sinnen den Implikationen nach, die diese Beobachtung mit sich bringt.

Jugend nervt

Die Jugend von heute ist ein Qual. Sie ist so verdammt unkreativ. Als ich jung war, konnte ich es nicht ertragen, Musik aus vergangenen Jahrzehnten zu hören. Sie war so abgeschmackt, so schal. Heute gibt es nur noch Musik aus vergangenen Jahrzehnten, und die immerwährende Wiederholung des ewig gleichen lässt mir selbst die Musik, die mir früher so viel bedeutete, belanglos erscheinen.

Ich hatte immer damit gerechnet, dass mich, wenn ich nicht mehr jung bin, die Jugend aufregen würde. So wie ich – und weil ich mit alten Eltern gesegnet bin, wahrscheinlich als einer der Letzten – die vorangegangene Generation aufgeregt habe. Nichts dergleichen. Die Jugend von heute nervt nur. Sie nervt, weil sie so langweilig ist. Sie nervt, weil sie nichts neues erfindet und uns ersaufen lässt in dem Mist von früher.

Ball in der Luft

Fasziniert betrachte ich das Fußballspiel. Nein. Fasziniert betrachte ich die Betrachter des Fußballspiels. Ich bin in einem Fernsehsender (da arbeite ich manchmal). Und die, die das Fernsehen machen, schauen kollektiv Fern. Die Nachrichtenredaktion jubelt und stöhnt, die Sportredaktion im Nebenzimmer tippt konzentriert Texte in die Computer.

Ich habe immer wieder versucht, die Faszination dieses Spiels zu verstehen, aber es bleiben 22 junge Männer, die einem Ball hinterherlaufen. Es beeindrucken mich die Bilder: fliegende Kameras, Zeitlupen, Steadyshots. Noch beeindruckender finde ich die Fotos, die permanent über die Bildagenturen einlaufen. Es sind an diesem Abend sehr viele, sehr gute Fotografen unterwegs, die dieses Fußballspiel und die Emotionen, die es auslöst, einfangen. Es ist ein bedeutendes Fußballspiel. Fotografen im Stadion, Fotografen auf den Straßen, Fotografen in den Kneipen. Permanent ein Strom von Bildern, viele wunderbar wie Gemälde – ein Junge, die Hände zum Gebet gefaltet, den Blick voll Trauer und Hoffnung nach oben gewandt.

Es sind moderne Digitalkameras die in ihrer Geschwindigkeit und Lichtstärke Blicke ermöglichen, wie sie bis vor kurzem nur in inszenierten Fotos möglich waren. Wunderbar ausgeleuchtete Bilder von Fußballspielern, die in der Luft um den Ball kämpfen, eingefroren zu Plastiken skurriler Schönheit.

Und so klingt es wenig später im Fernsehen:

“Nun haben es die Bayern also vollbracht: Sie sind ChampionsLeague-Sieger 2013. In einem spannenden deutschen Finale besiegten sie Borussia Dortmund mit 2:1”

Geschichte vom Geschichtenerzählen

Wie sehr Geschichte vom Geschichtenerzählen geprägt ist, darüber könnte ich mich auch immer furchtbar aufregen. Wie dumm von uns, das, was wir aus der Vergangenheit lernen könnten, in ein Korsett zu pressen, das das Geschehene derart verfälscht! – Das Korsett des Story-telling (weithin als Werkzeug betrachtet, Geschichte erfahrbar zu machen) hat ja seine ganz eigenen (und in Hinblick auf Geschichte willkürlichen) Regeln.

We dumb ourselves down!

(aus einer Email an H-P-H)

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