Gerichtsmedizinische Obduktion

Leipzig, 19. Januar 2006

Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen.

Die Leiche eines jungen Mannes, 27 Jahre, meine Statur, wird geoeffnet. Ein schaebiger Raum mit schmutzigen Fenstern und gesprungenen Kacheln. Angerostete Metallschraenke. Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich den Mut hatte, meinen Blick auf die nackte Leiche zu richten.

Eine bulliger, ziemlich unansehnlicher Mann mit kleinen Augen und fliehender Stirn ist fuer alles handwerkliche zustaendig. Hat Bauch und Brust aufgeschnitten und mit einer schweren Schere die Rippen durchtrennt. Hat mit einem Schoepfloeffel das Blut aus dem Brustraum in Messbecher geschoepft. 2 1/2 Liter lang.

Der Koerper ist kein Mensch. Die Haut nur Huelle, die man wie ein Kleidungsstueck abstreifen kann. Der Inhalt banal und bekannt. Alle Organe habe ich schon beim Metzger in der Auslage gesehen. Ich dachte, der Mensch ist kompliziert, undurchschaubar. Und doch nur eine kleine Zahl verschiedener Organe. Jeder Automat gleich. Keine Mystik. Ein unangenehmer Geruch. Die Organe werden mit vorgeschriebenen Schnitten zerteilt um daraus zu lesen. Um auf Krankheitsbilder zu stossen. Auf Anomalien.

Das Gehirn ist von allen Organen das schoenste. Das Grau und Weiss, zarte Strukturen. Ein Menschenleben, Erinnerungen und Gefuehle, Triebe, Schuld liegt auf einem abgenutzten Edelstahltisch. Ein Medizinstudent schneidet das Organ in Scheiben.

Man ist ein anderer Mensch, wenn man so etwas gesehen hat, wird Lucie spaeter sagen, und, dass jeder Mensch so etwas mal gesehen haben sollte.

Ich fuehle mich schuldig. Als haetten mich meine Elten erwischt, wie ich Pornobilder ansehe. So als wuerde ich etwas sehen, was ich nicht sehen duerfte. Und doch ist es gut. Es ist ein von der Erkenntnis probieren.

Artlöcher

Amsterdam, 28. November 2005
Ein indisches Restaurant in Amsterdam. Das Essen ist teuer, die Portionen klein. Ein Handwerker verlegt über unseren Köpfen ein Telefonkabel. Mir gegenüber sitzen drei Künstler. Es wird das unisperierteste Tischgespräch meines Lebens. Jeder der drei nur in der Lage in kryptischen Saetzen über die eigene Arbeit zu sprechen. Schlaue Worte, die keinen Sinn ergeben. Jeder hört niemandem zu.

Kleine Spanier

Berlin-Kreuzberg, 6. Juli 2005

Es regnet in stroemen. Meine Wohnung habe ich den ganzen Juli an ein sehr junges spanisches Paerchen vermietet. Ich mag die beiden nicht besonders. Mir kommen sie so vor, als waeren sie den ganzen Weg aus Zaragoza gekommen, um endlich mal miteinander ins Bett zu gehen. Jetzt liegen sie den ganzen Tag bei offener Zimmertuer auf meinem Bett und reden tiefsinnige Gespraeche. Eigentlich suess. Aber auch so langweilig und unendlich saudoof. “Macht euch mal locker,” moechte ich Ihnen zurufen, “wenn ihr weiter so verkrampft durchs Leben geht, werdet ihr nie Spass haben!” aber die beiden sprechen nur sehr schlecht Englisch, und mein Spanisch gibt es auch nicht her.

Von Hunden und Katzen

Berlin, 5. Juli 2005

“Stimmt genau!” ruft Tobias, “sie ist eine Katze, und ich, ich bin ein Hund. So ein Mist, so ein gottverdammter Mist! Julia kommt immer an, wenn sie etwas braucht, aber sie interessiert nicht, was ich will…. Ich muss mir einfach auch eine Hund-Frau suchen…” Ich überlege. Hund-Frauen gibt es irgendwie nicht, ich weiß nicht genau, warum. “Ich weißauch nicht warum,” sage ich, “Aber ich glaube, es gibt keine Hund-Frauen, was es gibt, sind Pferd-Frauen.” “OK, es gibt keine Hund-Frauen, aber ich, ich bin ein Hund, wahnsinnig anhänglich und treu, und total unglücklich, wenn er weggeschickt wird.” “Ja, Tobias”, sage ich, “du bist ein Hund!”

Mädchenwohnung

nyc_nathalie

Brooklyn, Montag 13. Juni 2005

Die Waende im Schlafzimmer sind lila. Ueberall haengen Fotos von ihr. Von ihr und manchmal von ihr und von ihm. Ihn kenne ich. Er heisst Daniel. Die beiden sind seit zwei Jahren verheiratet. Im Regal steht ein Buch “Elegant Wedding”. Vor kuzem hat er sie verlassen. Sie hat gelogen und gestohlen, es ging nicht mehr. Jetzt macht sie eine Drogentherapie. Am Ende des Monats wird er die Wohnung aufloesen. Daniel ist froh, dass ich fuer ein paar Tage die Miete uebernehme. New York ist teuer. Daniel hat sich eine neue Wohnung gesucht. Er will nicht, dass sie ihn finden kann, wenn sie aus der Therapie entlassen wird.

Ich bin seit drei Tagen hier. Schoene Wohnung. Aber wenn ich im Treppenhaus Schritte hoere, schrecke ich auf. So viele Bilder von ihr, aber es mag kein Bild von ihr entstehen. Sie heisst Natalie. Es liegen Briefe herum. Und so wahnsinnig viel voellig belangloses Zeug. Hochglanz-Magazine, in denen die Welt der Schoenen und Reichen beschrieben wird. Ich blaettere sie durch und fuehle mich unwohl. Doeschen mit Schlankheitspillen stehen auch ueberall herum. Natalie hat 12 Jahre hier gewohnt und ist immer dicker geworden. Eine schoene Wohnung. Viele Fenster, sehr hell. Holzfussboden. Nachts um drei Uhr veranstalten Kids aus dem Haus nebenan ein Rennen mit frisierten Mopeds. Um 7 Uhr 30 weckt mich ein wummernder Bass. Dancefloor-Musik aus einer Nachbar-Wohnung. Ich habe einen sehr tiefen Schlaf. So schnell weckt mich nichts auf. Hier ist nicht ein Ort an dem die Menschen viel Ruecksicht aufeinander nehmen.

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