Sand in den Händen

Ich sitze in der Küche in der Morgensonne und trinke Kaffee. Irgendein Arsch fährt mit dem Moped die Straße entlang. Wie mich der Lärm von diesen Mopeds nervt, denke ich. Und dann betrachte ich den Gedanken. Was ist es an diesem Geräusch, was mich nervt? Könnte ich dieses Geräusch auch lieben? Ich krame ein wenig in meiner Erinnerung.

War es Italien oder Griechenland, egal, eine Wohnung oder vielleicht ein Zimmer in einer Pension? In einem Küstenort, nicht weit vom Strand. Dachterrasse oder Balkon, oder nur ein geöffnetes Fenster? Draussen das Geräusch eines Mopeds. Der Geruch von Kaffee, Frühstück, hartgekochte Eier. Ja, ich kann mich erinnern, wie ich das gleiche Motorengeräusch gehört habe und wie ich es gerne gehört habe. Wie ich den Geräuschen gelauscht habe und wie schön der Augenblick war.

Als ich ein Kind war, war alles was war, das was es ist. Erst mit der Sprache fing es an, dass ich die Welt beurteilte, dass ich anfing in gut und schlecht zu unterteilen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals geweint zu haben. Sicherlich habe ich geweint, wie jedes Kind, ich habe nur keine Erinnerung daran behalten. Wohl kann ich mich an Augenblicke des Glücks erinnern und diese Augenblicke waren eigentlich gar nichts besonderes.

Wenn ich an Momente des Glücks in meiner Kindheit denke, dann fällt mir der Sand in meinen Händen ein, die winzig kleinen roten Käfer auf dem Asphalt aber nicht die Carrerabahn, die ich zu Weihnachten bekommen habe und die ich dann gegen meine Brüder verteidigen musste, bis sie irgendwann in einer Schachtel vergessen war.

Was unterscheidet also den Sand in den Händen von der Carrerabahn? Der Sand in den Händen ist ein Moment, ein Augenblick, besonders nur weil ich mich daran erinnere.

Die Carrerabahn ist auch eine Erinnerung, aber es ist nicht die Erinnerung an einen Moment, es ist die Erinnerung an eine Geschichte, die ihren Anfang hatte (Weihnachten), Drama (der Kampf mit den Brüdern) und eine Ende (die Schachtel im Keller). Eine Geschichte mit Timeline, eine Verbindung von Momenten zu einer Einheit. Ich erinnere nicht mehr die Momente, ich erinnere die Geschichte, die, wie die meisten Geschichten, immer auch mit Leid verbunden sind. Eine Geschichte, in der nicht auch zumindest eine Spur Leid vorkommt scheint es nicht zu geben, so als funktioniere eine Geschichte ohne Leid als Geschichte nicht.

Gibt es auch Momente des Leids? Ich muss nicht lange in meiner Erinnerung suchen um ein Beispiel zu finden. Anfang 30 hatte ich einen Bandscheibenvorfall. Ich hatte noch nie in meinem Leben und auch seither nie mehr solche Schmerzen. Ich lag viele Stunden alleine in meiner Wohnung auf dem Boden und konnte mich nicht bewegen, weil die kleinste Veränderung meiner Position noch mehr Schmerz verursachte. Doch das seltsame ist, wenn ich an diesen Moment zurückdenke ist da keine Wunde. Im Gegenteil, es ist eine Erfahrung, die ich zwar nicht wiederholen aber dennoch nicht missen möchte.

Ich habe mich schon oft gefragt, wie das sein kann und formuliere es so: Ich war noch nie so in einen Augenblick genagelt, wie ich es damals stundenlang war. Da war kein Gedanke an die Zukunft oder die Vergangenheit, da war nur die Konzentration auf die Position meines Körpers und darauf, durch eine winzige Bewegung eine Position zu finden, die vielleicht etwas weniger unerträglich war. Ich war so mit dem Moment beschäftigt, dass ich keine Ressourcen hatte, mir um die Zukunft Gedanken zu machen, oder der Vergangenheit nachzutrauern. Was war, war der Moment, stundenlang.

Es ist also nicht das Geräusch, das nervt. Leid scheint auch nicht am Schmerz allein zu liegen.

Woran liegt es dann?

Ich hege den Verdacht, das Leid hängt irgendwie mit der Geschichte zusammen. Mit der Geschichte mit ihrem Anfang und Mitte und Ende – und der Moral, auf die es in der Regel hinausläuft. Eine Geschichte hat immer auch etwas mit Urteil zu tun, mit der Beurteilung was man aus ihr lernen soll, für später.

Aus einem Augenblick lernt man nichts. Der Sand in den Händen, die unerträglichen Schmerzen. Sie sind einfach nur da. Und dann sind sie weg… nur wenige Momente bekommt man zu fassen und kann sie behalten.

Wie ich das erste mal bemerkte, dass jeder die Welt anders sieht

2015-12-Brille

Es war wohl in der 9. oder 10. Klasse. Ich saß im Physikunterricht in der vierten oder 5. Reihe. Der Lehrer schrieb etwas an die Tafel. Ich meldete mich und sagte, dass ich es nicht verstehe. Was bedeutete die Formel Rfmgt = 3 grt? Die ganze Klasse lachte. Der Lehrer war wütend. “Mann, Du brauchst eine Brille!” sagte ein Mitschüler, der wohl einen klaren Moment hatte. Er hielt mir eine Brille hin, die er von seiner Banknachbarin genommen hatte. Das war als Witz gemeint und steigerte die allgemeine Aufgeregtheit. Einem Witz niemals abgeneigt, ergriff ich die Brille und setzte sie mir auf die Nase.

Dann flippte ich aus.

Wie sich viel später herausstellte, war die Stärke der Brille fast haargenau die Stärke, die ich brauchte. Das war natürlich Zufall. Was aber passierte war, dass ich, mitten im Physikunterricht und völlig unvorbereitet, die Welt gänzlich neu sah. Wenn ich etwas außergewöhliches erlebe, macht mein Hirn ein Foto, das es dann auf immer speichert. Auf dem Bild zu sehen: Das mit roten Dachpfannen gedeckte Dach des Nachbarhauses der Schule. Die feinen Linien, die die einzelnen Dachpfannen gegeneinander abgrenzten, die vielen Rots, nicht mehr nur einfach ein rotes Dach. Ich war fasziniert und drückte das auch begeistert aus. “Wow, das Dach, schau dir mal das Dach an, wie schön das ist!” Wenn mir in diesem Moment schon klar gewesen wäre, dass das, was ich zum ersten mal (oder seit langer, langer Zeit zum ersten mal) sah, alle anderen immer sahen, hätte ich wohl geschwiegen. Aber für den Augenblick war ich einfach zu aufgeregt.

Für Herrn Schickram, meinen Physiklehrer, war mein Benehmen nur ein weiterer Beweis, dass ich ein Unruhestifter war. Und irgendwie, aber ganz anders, hatte er damit auch recht.

Facebook

Ein Wald voller Gespenster
Ein Wald voller Gespenster

Ich fühle mich gezwungen, bei Facebook mitzumachen und mache dann doch nicht richtig mit. Darauf fühle ich mich noch schlechter. Es ist, wie es war, als ich am Samstag Vormittag oft nicht zu den langweiligen Ministrantentreffen ging. Durch das schlechte Gewissen haben mir, nach und nach, selbst die Dinge keinen Spass mehr gemacht, die als Ministrant wirklich Spass bringen: mit den anderen Jungs durchs Dorf zu zieht, an den Häusern klingeln und seinen Spruch aufsagen:
“Die Ettmannsdorfer Ministranten bitten um eine Ostergabe”.
Man wird mit Süssigkeiten und Bargeld überhäuft. Die Süßigkeiten kann man behalten und das Geld kommt am Ende des Tages einem guten Zweck zu:
1/3 für die dritte Welt, 1/3 für den Pfarren und 1/3 als Beute für die Ministranten.

Mit 67 Mark bin ich damals nach Hause gegangen. Das war ein Haufen Geld. Mehr, als ich einem halben Jahr an Taschengeld verdient habe. Aber im nächsten Jahr bin ich dann trotzdem nicht mehr mitgegangen, weil ich dachte, dass die anderen denken, dass ich nur komme, wenn es Geld gibt und dass ich gar nicht richtig an den lieben Gott glaube.

Auch auf Facebook wird Gott nicht diskutiert. Weil man Themen, die zu viel Unruhe ins dörfliche Denken bringen könnten, auf jeden Fall vermeiden muss, wenn man im Dorf gemocht werden will. Und so muss man, wie der Besitzer eines Dorfladens, immer auf seinen guten Ruf bedacht sein. Alles, was man ins Dorf gibt, wir genau abgewägt. Intimes oder nahes, etwas, was verletzlich machen könnte, könnte gefährlich sein und wird nicht in Worte gepackt, die dann durchs ganze Dorf gehen.

Und so spricht man nicht mehr über das, was bewegt. Doch worüber man nicht spricht und es mit Worten benennt, hört mit der Zeit auf zu existieren. Weil das, was keinen Namen hat, nur schemenhaft erkennbar ist. Und so hat der Dorfladenbesitzer irgendwann nur mehr ein vages Gefühl, aber keine Worte, es auszudrücken.

Auf FACEBOOK kann man auch nur liken, so wie man im Dorf immer nur lächeln kann, auch wenn man jemand etwas sagt, das man nicht leiden kann.

Neid

2014bergIch sitze mit meinem Neffen auf dem Balkon. “Wie soll ich es sagen?” fragt er, “Ich habe dich immer beneidet, dass du so genau weisst, wohin du im Leben willst. Dass du ein Ziel hast, dass du erfolgreich bist.”

Ich weiss nicht, was ich antworten soll. Denn zum einen weiß ich, wie steinig der Weg ist, den ich gehe. Doch viel mehr: Ich wollte niemals beneidet werden.

Vielmehr hätte ich gewünscht, dass man sich für mich freut. Von meiner Familie hätte ich es erwartet. Wenn mein Neffe mich zumindest bewundern und damit meine Leistung würdigen würde.

Neid ist schrecklich. Neid steht für die Frage “Warum du, warum nicht ich?”. *Neid* erkennt nicht an, dass man sich etwas *erarbeitet* hat. Und – das ist vielleicht das schlimmste – derjenige, der Neid äussert, verschließt die Augen vor den Ursachen des Erfolgs. Wenn man einen Bergsteiger darum beneidet, dass er einen hohen Berg gestiegen hat, wird man kaum in der Lage sein, von ihm zu lernen, um selbst irgendwann in der Lage zu sein, den Berg zu erklimmen.

Neid ist hässlich. Für den Neider wie den Beneideten.

Das hässliche Haus I

2014shs

Der Vater hat dem Sohn eine Wohnung gekauft. In Berlin, da hat der Sohn an der Kunsthochschule studiert. Und der Sohn hat sich gefreut. Er hat sich für den Vater gefreut, weil der sein Leben lang gearbeitet hat und nun eine Wohnung besitzen konnte, in der neuen Hauptstadt. Er hat sich über die Geste gefreut, dass der Vater für den Sohn sorgt, denn für wen, wenn nicht für den Sohn hätte die Wohnung später sein sollen? Der Sohn hat sich nicht über die Wohnung gefreut, denn das Haus, in dem die Wohnung war, war hässlich. Obendrein, wie es damals wohl nur in Berlin sein konnte, lag die Wohnung zwar mitten in der Stadt, doch gleichzeitig im Nirgendwo “Wo ziehst Du hin?” haben die Freunde des Sohnes gefragt – und als, nach vielen Jahre ein Café eröffnete hieß es: “Am Ende der Welt”.

Der Sohn hat dem Vater Miete bezahlt und es war die Miete, die man damals zahlen musste, wenn man in Berlin Mitte in einen Neubau zog. Nur wenige Leute taten das und die wenigen kamen aus Bonn und waren nur unter der Woche in der Stadt. Das mit der Miete ging für den Sohn schon in Ordnung, denn die Wohnung war mit besonderen steuerlichen Vergünstigungen gekauft, wie es sie nur damals, wenige Jahre nach der Wiedervereinigung gab. Aufbau Ost hiess das Motto und das Finanzamt konnte es nicht zulassen, dass ein Vater den eigenen Sohn zu besonderen Konditionen in der Wohnung wohnen lässt. Und das Finanzamt war damals auch besonders streng. So sagte der Vater, und der musste es wissen, denn der Vater war Steuerberater. Der Sohn sah, wie seine Freunde die herrlichsten 120 qm Altbauwohnungen bezogen und nur die Hälfte seiner Miete zahlten. “Aber wir haben eine Tiefgarage!” versuchte der Sohn seine Freundin zu überzeugen, die zwar in die Wohnung mit einzog, aber nicht für sehr lange. Nur einmal hatte der Vater seinen Sohn vorher gefragt, welche Wohnung er denn kaufen würde. Als der, ohne viel zu überlegen “eine renovierte Altbauwohnung im Prenzlauer Berg” zurückgab wurde die Idee schnell abgetan, mit Verweis auf feuchte Keller, alte Bausubstanz und Neubauförderung.

Der Vater verhielt sich damals ganz anders als anonyme Immobilienspekulanten, die da Wohnungen kauften, wohin Kunststudenten zeigten. Der Vater hielt nicht viel vom Immobilienverstand von Kunststudenten.

Der Sohn fügte sich und war gerührt, ob der Vorsorge, denn er verstand, dass der Vater das Beste tat, was er konnte.

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