Die Story macht blind

In Prag. In meinem Hotelzimmer sehe ich Fern. Es gibt nur wenige deutsche Kanäle, ich bleibe bei RTL oder RTL II hängen. Es ist früher Nachmittag, es läuft eine Reality TV Serie. Eine Mutter lebt mit ihrer Tochter bei einem neuen Mann, der einen Sohn im Alter der Tochter hat. Im Verlauf der Sendung kommt heraus, dass der Sohn die Tochter missbraucht und bedroht hat, doch sie sagt es der Mutter nicht, weil sie nicht das Glück der Mutter mit dem neuen Mann gefährden will.

Die Geschichte ist voll von Klischees, schlecht erzählt, furchtbare Schauspieler. Ein durchsichtiges Unterfangen, und dennoch:

Ich breche in Tränen aus. Die Macher der Geschichte ziehen alle Register und ich funktioniere. Ich sehe selten Filme, ich sehe so gut wie nie fern. Ich bin dem wie wehrlos ausgeliefert.

Ich bin zu einem Dokumentarfilmfestival nach Prag eingeladen, wo ich über Korsakow spreche und darüber, wie “Story” uns davon abhält, die Welt wahrzunehmen.

Wenig später treffe ich auf dem Festival eine Frau. Sie ist die Produzentin eines Films. Der Film hatte am Vortrag Premiere. Es ist ein Film über den Bürgerkrieg, der gerade in Syrien stattfindet. Die Frau erzählt mir, wie die Filmemacher monatelang in einer von den Regierungstruppen belagerten Region verbrachten, wie sie das Grauen des Krieges, das Sterben der Menschen erlebten und beobachteten. Ein wichtiger Film, zweifellos.

Der Raum, in den wir stehen ist laut, viele Menschen um uns herum, die Luft ist stickig, ich bin abgelenkt. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken schweifen ab, das Sterben der Menschen in Syrien ist weit weg. Ich denke an die Mutter und ihre Tochter auf RTL II. Deren Geschichte hält meine Gedanken gefangen.

Meine Mitgefühl ist okkupiert von einer künstlichen Geschichte.

Die Welt ist so Komplex, wie es in einen Kopf hineinpasst

2015-08-PHA-7sons

Vor etwa 10 Jahren habe ich einen Text zu einem Projekt von mir geschrieben. “7Sons” ist einen Dokumentarfilm über eine Reise zu den Beduinen. Darin der Satz:

“The Beduins’ world is small, much less complex than the modern world, the world of Thalhofer and Hamdy.”

Vor kurzem wurde ich in einem Interview mit dieser, meine Aussage konfrontiert. Ich sagte, dass ich mir nicht vorstellen könne, jemals so einen Unsinn gesagt zu haben.

Nun, ich habe diesen Satz geschrieben. Er ist dumm und arrogant und ich möchte im folgenden versuchen, zu erklären, warum:

Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der über sich gesagt hätte, er lebe in einer einfachen und überschaubaren Welt. Allerdings habe ich schon Menschen getroffen, von deren Leben ich genau dies dachte. So dachte ich damals auch über die Beduinen, dass deren Leben einfach sei und ihre Welt wenig komplex. Ich war schlicht und ergreifend unfähig, die Welt der Beduinen in ihrer Komplexität zu überschauen. Ich hatte (und habe) keine Ahnung, was es bedeutet, ein Beduine zu sein. Und ich beging einen Fehler, den man leicht begeht und den viele begehen, wenn sie wenig Ahnung von etwas haben. Ich dachte, dass das, was ich sehen kann, das ist, was ist.

Und ich konnte verdammt wenig von dem sehen, was die Welt eines Beduinen ausmacht. Da ich ja dachte, dass das, was ich sehen kann, das ist, was ist, folgerte ich, die Welt der Beduinen sei einfach. Ich war blind für einen riesigen Bereich, und meinte deshalb, es gibt ihn nicht. Das ist Dummheit, denn ich hätte durch wenig Nachdenken erkennen müssen, dass ich nur einen winzigen Ausschnitt sehe. Ich habe nur wenige Wochen mit den Beduinen verbracht und kam aus dem Lernen gar nicht heraus. Doch ich war so arrogant zu denken, dass mein Blick auf die Welt der Beduinen, die Welt der Beduinen gänzlich erfassen könne.

Die Welt, die uns umgibt, ist vielleicht unendlich kompliziert und wird wohl nie völlig zu verstehen sein. Vielleicht ist sie auch endlich kompliziert, in jedem Fall ist sie um ein vielfaches komplizierter, als es in einen Kopf hineinpasst – als es sich mit einem Hirn verstehen lässt.

Umgekehrt könnte man sagen, aus der Sicht eines Menschen ist die Welt immer so komplex, wie es sich in seinem/ihrem Hirn abbilden lässt. Alle Menschen sind mit ziemlich genau der selben Hardware ausgestattet (dem Hirn). Die Abweichungen zwischen den Hirnen unterschiedlicher Menschen sind marginal. Man kann also sagen, die Komplexität der Vorstellung der Welt, ist durch das Fassungsvermögen eines menschlichen Hirns definiert ist. Damit ist die Welt eines Beduinen genauso komplex ist, wie die Welt eines Bewohners von Los Angeles. Die Welt eines klugen Beduinen genauso komplex wie die Welt eines Atomphysikers, der an der UCLA unterrichtet.

Wir gehen allerdings eher davon aus, dass unsere Welt, mit ihren Smartphones, Computern, Atomuhren die Krönung der Komplexität ist.

Der Bereich, der von einem Beobachter nicht gesehen werden kann (z.B. die Welt der Atomphysik) wird bei dem Professor aus Amerika gemeinhin bewundert, beim Beduinen aus dem Sinai hingegen ignoriert. Der kluge Beduine lächelt über diese Ignoranz.

Doch genau in diese Falle bin ich getappt, als ich die Welt der Beduinen als klein und wenig komplex beschrieb. Es geht hier nicht darum, eine Wertung zu treffen, welches Modell der Welt (das eines Atomphysikers in LA oder das eines Beduinen in der Wüste) das bessere sei. Meiner Meinung nach (falls das von Interesse sein sollte) ist das naturwissenschaftlich, aufgeklärte Denken aus vielen Gründen besser als das religiös geprägte Denken. Es ist nur nicht mehr oder weniger komplex.

Das zu denken, ist dumm.

Good Morning America – Good Night Europe!

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