Ball in der Luft

Fasziniert betrachte ich das Fußballspiel. Nein. Fasziniert betrachte ich die Betrachter des Fußballspiels. Ich bin in einem Fernsehsender (da arbeite ich manchmal). Und die, die das Fernsehen machen, schauen kollektiv Fern. Die Nachrichtenredaktion jubelt und stöhnt, die Sportredaktion im Nebenzimmer tippt konzentriert Texte in die Computer.

Ich habe immer wieder versucht, die Faszination dieses Spiels zu verstehen, aber es bleiben 22 junge Männer, die einem Ball hinterherlaufen. Es beeindrucken mich die Bilder: fliegende Kameras, Zeitlupen, Steadyshots. Noch beeindruckender finde ich die Fotos, die permanent über die Bildagenturen einlaufen. Es sind an diesem Abend sehr viele, sehr gute Fotografen unterwegs, die dieses Fußballspiel und die Emotionen, die es auslöst, einfangen. Es ist ein bedeutendes Fußballspiel. Fotografen im Stadion, Fotografen auf den Straßen, Fotografen in den Kneipen. Permanent ein Strom von Bildern, viele wunderbar wie Gemälde – ein Junge, die Hände zum Gebet gefaltet, den Blick voll Trauer und Hoffnung nach oben gewandt.

Es sind moderne Digitalkameras die in ihrer Geschwindigkeit und Lichtstärke Blicke ermöglichen, wie sie bis vor kurzem nur in inszenierten Fotos möglich waren. Wunderbar ausgeleuchtete Bilder von Fußballspielern, die in der Luft um den Ball kämpfen, eingefroren zu Plastiken skurriler Schönheit.

Und so klingt es wenig später im Fernsehen:

“Nun haben es die Bayern also vollbracht: Sie sind ChampionsLeague-Sieger 2013. In einem spannenden deutschen Finale besiegten sie Borussia Dortmund mit 2:1”

Jeder ein Künstler

Welch saudummer Slogan: “In jedem steckt ein Künstler”. Vielleicht steckt sogar in jedem ein Künstler, aber dann sicherlich nur in dem Maß, in dem in jedem ein Steuerberater steckt, oder ein Fernsehdirektor. Der Rest ist Arbeit. Natürlich kann jeder ein Bild malen. Oder ein Foto machen. Oder Worte zu Parier bringen. Oder ein Lied singen.

Jeder ist ein Künstler?

Und so, wie Eltern die Kritzeleien ihrer Kinder anschauen und Genialität hineinsehen, haben wir und angewöhnt, all den Mist, der ununterbrochen fabriziert wird, fasziniert zu betrachten und die wundervolle Vielfalt zu bewundern. Und es fällt uns gar nicht mehr auf, dass dabei ein schrecklicher Brei herausgekommen ist. Hässlich und uninspiriert, weil nur bunt aber bedeutungslos.

Was macht einen Künstler aus?

Der Künstler braucht die nötigen Ressourcen, sich lange und intensiv mit einem Thema zu beschäftigen und das, ohne am Anfang zu wissen was – und ob – am Ende etwas brauchbares herauskommt. Das hat er mit einem Grundlagenforscher gemeinsam, im Gegensatz zu einem Ingenieur (der ganz und gar zielorientiert arbeitet).

Weil sich die Gesellschaft aber angewöhnt hat, so viele als Künstler zu sehen, sind die Ressourcen, die jedem einzellnen Künstler zu Teil werden, immer kleiner geworden.

Es geht nicht darum, den ‘besten’ Künstler zu finden, um diesem dann die Ressorcen zu geben. Es geht darum, irgendjemanden zu haben, der den Job macht. Der bereit ist, sich in jahrelanger, mühseliger und bisweilen niederschmetternd frustrierender Kleinarbeit mit einem Thema zu beschäftigen, ohne zu wissen, ob die Arbeit irgendwann Sinn machen wird. Jemand muss diese Grundlagenforschung betreiben! Und die künstlerische Grundlagenforschung muss mit den nötigen Ressourchen ausgestattet sein, genauso wie jeder Forscher die nötigen Ressourcen braucht, um vernünftig arbeiten zu können.

Statt dessen zieht sich die Gesellschaft ein Heer von schlecht ausgebildeten, schlecht ausgestatteten, hochabitionierten Kleinkünstlern heran, die alle nur wild durcheinanderplappern. Es ist ein furchtbarer Krach.

Modernes Leben

Über den studentischen Emailverteiler der Universität der Künste, Berlin werden immer wieder Ateliers, WGs oder Wohnungen angeboten oder gesucht. Ich lese die Beschreibung einer WG mit angeschlossenem Atelier. Fünf Menschen leben und arbeiten zusammen in einer alten Fabriketage. Ein Zimmer ist frei. 400 Euro inkl. DSL und Nebenkosten. Das Zimmer hat 16 qm, plus Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsatelier. Wohnen und arbeiten für Architekten und Designer. Es ist ein Bild abgehängt. Zu sehen: ein karger Raum mit Tischen auf denen silberne Laptops stehen.

Sweatshop denke ich.

Die Singer-Nähmaschine von gestern ist das Macbook Air von heute.

Das Geschenk oder der Versuch, die Vergangenheit zu ändern

Bayern, 24. Dezember 2012

Als ich sieben oder acht Jahre alt war, mussten wir in der Schule im Werkunterricht eine Laubsägearbeit anfertigen. Wir sollten ein Schlüsselbrett basteln. Nach einer Vorlage mussten wir die Form eines Schlüssels aussägen, an vorgegebenen Stellen wurden Löcher gebohrt, in die wir dann vorbereitete Holzstifte einklebten, an denen man später die Schlüssel aufhängen konnte. Anschließend sollten wir das Ding bemalen.

Ich hatte keinen Spass an der Sache. Die Form des Schlüssels hat mir nicht gefallen, weil der Schlüssel nicht so aussah, wie die Schlüssel, die ich kannte und ich hatte keine Freude daran, ein Schlüsselbrett herzustellen, das genau so aussah, wie das der anderen Kinder.

Beim anmalen ging irgendetwas schief, ich erinnere mich, wie ich mit meinem Schlüsselbrett am Tisch der Lehrerin stand. Sie nahm mir das Brett aus der Hand, übermalte, was ich schon gemalt hatte, mit brauner Farbe und pinselte mit schnellen Bewegungen grüne und orangene Halbkreise darauf. Dann gab sie mir das Schlüssebrett zurück und ich lieferte es zu Hause ab.

Dort wurde es neben der Wohnungstür aufgehängt und die Geschichte war 30 Jahre lang vergessen.

Meine Frau, die die Kunst versteht, auf Kleinigkeiten zu achten, brachte sie wieder an die Oberfläche. Wir waren für ein paar Tage zu Besuch bei meinen Eltern und als wir zwischendurch das Haus verließen, starrte ich jedesmal für ein paar Sekunden ins Leere, wenn ich meinen Schlüssel von eben jenem Brett nahm. Sie fragte sie mich, was los sei. Und so kam die Erinnerung an eine der größten Niedelgagen meines künstlerischen Lebens wieder aus den Tiefen der Sprachlosigkeit an die Oberfläche.

Ich habe die Geschichte meiner Familie an Weihnachten erzählt und ein Jahr später ein neues Schlüsselbrett mitgebracht. Zu meiner Überraschung kam es zu hitzigen Diskussionen, als ich am Weihnachtsabend das alte Schlüsselbrett abmontierte. Mein Vater erklärte, dass er es mochte und zumindest in der Garage für sein Werkzeug benutzen wolle. Ich wollte es verbrennen. Mein Bruder nannte mich hysterisch und sagte, dass ich ein seltsames Verhältnis zu Eigentum hätte, schliesslich hatte ich das Brett ja irgendwann mal meine Eltern geschenkt. Schließlich gab ich meinem Vater das Schlüsselbrett mit den Worten:
“Es ist Deines, Du kannst damit machen, was Du willst, aber Du musst wissen, dass es mich sehr verletzt, wenn Du es weiter benutzt.”

Er antwortete umgehen: “Prima, dann hänge ich es in der Garage auf.”

Lächerlich

Mein Musiklehrer auf dem Gymnasium dachte, dass an uns Bauernbengeln ohnehin Hopfen und Malz verloren sei. Und so unternahm er gar nicht erst den Versuch, uns Musik nahezubringen. Musik, das war für ihn klassische Musik und er machte seinen Unterricht in unserer Klasse nur für eine Person. Claudius Christl spielte Klavier und galt als musikalisches Wunderkind. Zumindest in meiner kleinen Welt. Das machte Claudius für mich völlig inakzeptabel, und ich bedauere meine damalige Dummheit noch immer, denn mit den anderen Bauernbengeln verstand ich mich auch nicht.

Woran Bob Marley gestorben sei, hatte ein Mitschüler meinen Musiklehrer gefragt. “Bob Marley? An Drogen”. Bob Marley war an Krebs gestorben und so war von da an alles, was mein Musiklehrer über Musik sagte, falsch. So ging die klassische Musik an mir vorbei. Und auch das bedauere ich.

Mein Musiklehrer war ein lustiger alter Mann. Und es war ihm völlig egal, was wir (und vielleicht auch unsere Eltern) über ihm dachten. Er war um seinen Ruf nicht besorgt. Das hat mir imponiert. Um uns zu unterhalten, hat er bei jeder Gelegenheit Kniebeugen gemacht. Wenn jemand eine Frage richtig beantwortete: 10 Kniebeugen. Bei der zweiten richtigen Antwort 20 Kniebeugen. Dann 30. Und die Kinder lachten. “Ihr lacht”, sagte mein Musiklehrer “und ich mache Kniebeugen. Und das ist gesund.”

“Wenn das Publikum lacht, dann war der Künstler erfolgreich” hat er einmal gesagt. Dieser eine Satz hat meinen Musiklehrer zu einem großartigen Lehrer gemacht.

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