Im Körper

Berlin, Nov. 2013

Man kann noch so viel begriffen haben, es hilft einem nichts. Wenn man das, was man verstanden hat, nicht spürt, es lebt. Zum Beispiel das “im Augenblick sein”. Jeder halbwegs intellektuelle Mensch hat es verstanden. Die Theorie ist klar: Das Glück erschließt sich, wenn man den Augenblick lebt. Wenn man nicht andauernd über die Vergangenheit grübelt oder sich über die Zukunft Sorgen macht. Wenn man sich zum Beispiel die Wolken am Himmel anschaut. Einen Baum, dem der Wind durch die Blätter fährt. You know what I am talking about. Du, der Du diese Zeilen liest, bist auch so ein Intellektueller. Im Augenblick sein! Jetzt. Hier. Einatmen, ausatmen. Hunger? Durst? Wie riecht die Luft? Aber Du hast es ja längst begriffen. Du kennst den Gedanken. Jetzt mal wirklich: Wie riecht die Luft?

Intellekt ist was schönes. Aber was hilft es, wenn es die Welt nicht fühlen lässt, sondern nur begreifen? Begreifen kann ein erster Schritt sein, aber wenn man das Begriffene nicht erlernt, es nicht so lange übt, bis man es automatisch macht, ist es wertlos. Das Sammeln theoretischer Gedanken unterscheidet sich nicht sehr dem Sammeln von Briefmarken.

Ich habe eine Hexe kennengelernt. Die hat mir gezeigt, dass ich einen Körper habe. Dass ich nicht nur in einem Körper lebe, sondern dass ich ein Körper bin. Ein Körper, der denkt. Nicht ein Denken, das in einem Körper steckt. Die Hexe und ich, wir üben es immer wieder und die Erfahrung ist ein ums andere mal spektakulär: Ich bin ein denkender Körper. Und ein ums andere Mal verschwindet das Fühlen nach einiger Zeit wieder und ich rutsche zurück ins Denken. Ich denke dann wieder und fühle kaum mehr.

Wie fühlen sich meine Fingerspitzen an, wenn sie die Tasten des Computer-Keyboards nach unten schlagen? Und seltsam, wenn ich mir dessen bewusst werde, lenkt es mich nicht von meinen Gedanken ab, im Gegenteil. Es lässt meine Gedanken fließen. Aber ich muss aufpassen, denn meine Gedanken sind bereits dabei, meine Aufmerksamkeit zu übernehmen. Meine Gedanken schmieren meine Leben zu. Wie weiße Farbe über eine Fensterscheibe. Gedanken sind das, was wir aus der Welt machen. Die Welt ist alles, was denkbar ist, doch das, was wir denken, ist das Gefängnis, in dem wir leben.

Eitelkeit

Thessaloniki, 31. Mai 2012

Viel zu lange war ich eitel. Ich war unsicher und es war mir wichtig, wie andere mich sehen. Ich habe Freunde um mich versammelt, die meine Eitelkeiten pflegten. Leute, die mir sagten, was meine Eitelkeit hören wollte. Doch diese Freunde waren selbst eitel und im Austausch musste ich ihnen geben, was ihre Eitelkeit hören wollte.

Wir waren wie voneinander abhängig.

Doch dann wurde ich der Eitelkeit überdrüssig. Ich bemerkte die Energie, die es kostet, die Eitelkeit zu pflegen und wie es mich abhielt, mutig zu sein. Zu sagen, was man denkt, zu tuen, was man fühlt. Denn was könnten die anderen denken? Wer eitel ist, hat in Wirklichkeit Angst, von den anderen als das gesehen zu werden, was man selbst befürchtet zu sein: Nichts. Staub der Geschichte. Unbedeutend. Nicht der Rede wert.

Dann habe ich erkannt, dass ich genau das bin: Nichts, unbedeutend, nicht der Rede wert. Und plötzlich konnte ich sagen, was ich denke, tuen was ich fühle. Und es war ganz einfach und es wurde immer einfacher, denn ich musste nicht mehr darauf achten, was die Anderen denken, wie die Anderen mich sehen.

Eine Zeit lang habe ich noch die Eitelkeit meiner Freunde gefüttert. Bis ich spürte, wie viel Energie mir das nahm. Statt für meine Gedanken habe ich für ihre Gedanken gearbeitet. Eitle Gedanken, hohle Gedanken die zu nichts anderem gut waren, als Eitelkeit zu befördern.

Es tut weh, mit Freunden zu brechen. Und es macht Angst. Denn jenseits der Eitelkeit ist da auch die Sorge, alleine zu sein. Der Bruch kam abrupt. Denn die Freunde bekamen schon eine Weile nicht mehr das, was sie brauchten. Und so verlor ich viele Freunde auf einmal.

Und das war gut. Ich verlor nicht alle Freunde. Ein paar wenige blieben. Es blieben die, die nicht aus Eitelkeit mit mir befreundet waren. Und ich lernte, dass ich gar keine eitlen Freunde will. Eitle Freunde sind Zeit- und Energieverschwendung. Was man von eitlen Freunden bekommt glitzert, doch es ist schal und in Wahrheit nichts wert. Nichts, was man will und nichts, wofür man Energie aufwenden sollte.

Und ich habe gelernt. Lieber als eitle Freunde habe ich gar keine Freunde. Lieber als eitel zu sein bin ich nichts, unbedeutend, nicht der Rede wert.

Weiter im Denken

Vor über 10 Jahren habe ich mir diesen Mülleimer gekauft. Sie wissen schon. Schickes Teil, Treteimer, alt, Metall, weiß, Ebay. Und seit 10 Jahren nervt er mich. Man tritt auf das Pedal und der Deckel klemmt. Nur manchmal, wenn man mehrmals kurz hintereinander drauftritt geht er auf. Manchmal. Ansonsten nimmt man die Hand zu Hilfe. Der Deckel klemmt. Scheißding! Aber weiß, Metall, alt, cool und – Sie wissen schon – nicht billig.

Und dann, nach mehr als 10 Jahren. Ich weiss nicht, warum. Ich war wie immer in Eile. Trotzdem. Ich knie mich vor den Eimer und schaue mir die Sache an. Nach etwa 30 Sekunden habe ich das Problem identifiziert und die Lösung gefunden. Es ist ganz einfach. Im Eimer, ein zweiter Eimer zum Herausnehmen. Und der innere Eimer hat einen Tragebügel. Und der verhakt sich mit dem Deckel, wenn man den Tragebügel nicht ganz gerade ausgerichtet nach hinten legt.

Ich bin zwei Tage lang glücklich. Und noch nach Monaten kann ich mich freuen, wenn ich das Fußpedal leicht berühre und der Deckel aufspringt. Schon eine geniale Sache, so ein Hirn.

Schon einmal bin ich mittels Denken auf eine Erkenntnis gekommen. Ich war wohl 14 Jahre alt. Vielleicht war es das erste Mal, dass mein Denken, ganz aus mir selbst heraus, auf eine Erkenntnis kam. Ich habe es noch genau vor Augen. Ich bin auf meinem gelben Rennrad die Wackersdorfer Strasse hinuntergefahren. Ich bin schnell gefahren. Die Wackersdorfer Strasse ist abschüssig. Die Ampel war grün. Ich schaue zur Seite. Manchmal macht mein Kopf ein Foto, manche Fotos trage ich mein Leben lang mit mir herum.

Auf dem Foto eine Bushaltestelle. Und auf der rechten Seite der Bushaltestelle: ein Mülleimer. Und ungefähr folgende Gedanken gehen mir durch den Kopf: Wieso eigentlich Apfeleimer? Es ist ja nicht so, dass man da nur alte Äpfel oder Apfelstumpen hineinwirft, sondern allen möglichen Kram: Papier, leere Flaschen, Plastiktüten, Müll… Abfall…

“Abfalleimer” – es heisst “Abfalleimer” und nicht “Apfeleimer” – ah!

Ich drehe den Kopf nach vorne und fahre weiter. Der Zukunft entgegen.

Gerichtsmedizinische Obduktion

Leipzig, 19. Januar 2006

Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen.

Die Leiche eines jungen Mannes, 27 Jahre, meine Statur, wird geoeffnet. Ein schaebiger Raum mit schmutzigen Fenstern und gesprungenen Kacheln. Angerostete Metallschraenke. Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich den Mut hatte, meinen Blick auf die nackte Leiche zu richten.

Eine bulliger, ziemlich unansehnlicher Mann mit kleinen Augen und fliehender Stirn ist fuer alles handwerkliche zustaendig. Hat Bauch und Brust aufgeschnitten und mit einer schweren Schere die Rippen durchtrennt. Hat mit einem Schoepfloeffel das Blut aus dem Brustraum in Messbecher geschoepft. 2 1/2 Liter lang.

Der Koerper ist kein Mensch. Die Haut nur Huelle, die man wie ein Kleidungsstueck abstreifen kann. Der Inhalt banal und bekannt. Alle Organe habe ich schon beim Metzger in der Auslage gesehen. Ich dachte, der Mensch ist kompliziert, undurchschaubar. Und doch nur eine kleine Zahl verschiedener Organe. Jeder Automat gleich. Keine Mystik. Ein unangenehmer Geruch. Die Organe werden mit vorgeschriebenen Schnitten zerteilt um daraus zu lesen. Um auf Krankheitsbilder zu stossen. Auf Anomalien.

Das Gehirn ist von allen Organen das schoenste. Das Grau und Weiss, zarte Strukturen. Ein Menschenleben, Erinnerungen und Gefuehle, Triebe, Schuld liegt auf einem abgenutzten Edelstahltisch. Ein Medizinstudent schneidet das Organ in Scheiben.

Man ist ein anderer Mensch, wenn man so etwas gesehen hat, wird Lucie spaeter sagen, und, dass jeder Mensch so etwas mal gesehen haben sollte.

Ich fuehle mich schuldig. Als haetten mich meine Elten erwischt, wie ich Pornobilder ansehe. So als wuerde ich etwas sehen, was ich nicht sehen duerfte. Und doch ist es gut. Es ist ein von der Erkenntnis probieren.

Die Welt ist eine Wolke

Vor kurzem ist mir eingefallen, wie die Welt funktioniert. Es ist ganz einfach: Die Welt ist eine Wolke.

Bild: Jim Avignon

Die Welt ist eine Wolke, und um die Wolke herum ist nichts. Das Nichts ist schwarz. Doch das Nichts ist nicht nur nichts, es ist gleichzeitig alles. Das Nichts ist der unendliche See aller Möglichkeiten.

So wie eine Wolke am Himmel aus Wasser-Molekülen besteht, besteht die Wolke, die die Welt ist, aus Menschen. Es gibt eine Kraft, die die Moleküle beisammen hält, die verhindert, dass sie in alle Richtungen auseinander streben und sich im Nichts verlieren. Diese Kraft ist eine Art Klebstoff, der die Menschen beisammen hält. Der Klebstoff heißt Kommunikation. Die Menschen reden miteinander. Ununterbrochen und über nur ein Thema: Es geht um die Frage, was die Welt ist.

Die Welt ist die Wolke. Und die Wolke ist das, was alle Menschen miteinander verbindet. Teil der Wolke ist jeder Mensch, solange er nur in Verbindung zu mindestens einem anderen Menschen steht, der seinerseits Verbindung zur Wolke hat. Menschen, die ihren Kontakt zur Wolke verlieren, driften ins Nichts ab. Sie verlieren ihren Kontakt zur Welt. Sie sind verrückt, verrückt gegenüber der Welt.

Die meisten Menschen sind auf allen Seiten von anderen Menschen umgeben. Wie viele es sind, bestimmt die Dichte der Wolke an dieser Stelle. Neue Ideen entstehen am Rande der Wolke. Ideen, Erfindungen und Entdeckungen, die die Welt verändern.

Was passiert, wenn ein Mensch am Rande der Wolke einen Bewegung nach draußen macht? Ein kleines Stück, gerade so weit, dass er die Verbindung zur Wolke nicht verliert… Sie wird etwas entdecken, was es bisher noch nicht gab, etwas, das außerhalb der Wolke, außerhalb des Bewusstseins der Welt liegt. “Hey!” wird sie rufen “seht, was ich entdeckt habe!” Und wenn der Pionier andere überzeugen kann, nach sich ziehen kann, dann passiert etwas interessantes: Die Wolke verändert ihre Form. Die Welt verändert sich ein Stück und das, was gerade noch außerhalb der Welt lag ist plötzlich Teil von ihr.

Ständig entstehen neue Ideen. Ununterbrochen fliegen auf allen Seiten der Wolke Moleküle aus ihr heraus, doch nur die wenigsten schaffen es, andere Moleküle mitzureissen. Die meisten verlieren sich im Nichts, oder stürzen nach einem kurzen Ausflug wieder in die Welt zurück, ohne die Form der Wolke an dieser Stelle dauerhaft zu verändern.

Manchmal stellt die Welt auch fest, dass vor ihr schon jemand da war. Vincent van Gogh zum Beispiel. Ein besonders verrücktes Exemplar Molekül, ein Maler, der zu seinen Lebzeiten nie ein Bild verkaufte. Von Drogen wirr im Kopf, schnitt er sich ein Ohr ab. Ein Verrückter, kein Zweifel. Doch die Wolke hat sich in seine Richtung bewegt. Zufällig vielleicht, wer könnte das sagen? Die Welt hat sich verändert, hat seine Bilder entdeckt und plötzlich war Vincent van Gogh nicht mehr verrückt. Er war ein Genie, der Welt voraus.

Die Wolke ist in ständiger Veränderung begriffen. Zu keinem Zeitpunkt ist sie genau gleich. Doch sie verändert sich langsam, und sie hat ihre Zentren. Religionen sind solche Zentren zum Beispiel, oder politische Systeme. Und die Wolke hat viele Zentren. Die Zentren wirken wie innere Schwerpunkte, die bewirken, dass sich die Wolke nicht zu schnell bewegt.

Die Wolke breitet sich nicht nur aus, sie verschwindet auch aus Bereichen in denen sie schon war und überlässt diese wieder dem Nichts. Das Wissen und das Weltbild der Ägypter zum Beispiel. Wir sehen ihre Pyramiden, doch es bleibt uns völlig verschlossen, wie ihre Welt ausgesehen hat. Man kann sich aus unserer Welt heraus ein Bild davon machen. Verstehen kann man es nicht. Und das Bild ist geprägt von dem, was die Welt jetzt ist.

Sophie, einer Freundin von mir, hat eine Beobachtung gemacht. Merkwürdig, hat sie gesagt, dass man einem Film von 1950, der im Jahr 1850 spielen soll, viel eher das Jahr 1950 ansieht, als das Jahr, in dem es in dem Film geht; auch wenn man sich 1950 alle Mühe gegeben hat, die Zeit um das Jahr 1850 so authentisch wie möglich darzustellen. Ein historischer Film 20 Jahre später gedreht, würde ganz anders aussehen, und auch in ihm könnte man seine Entstehungszeit sofort ansehen. Offensichtlich ändert sich das Bild von dem was man sich von der Vergangenheit vorstellt, mit der Zeit.

Die Welt ist eine Wolke, die sich in ständiger Veränderung befindet. Man kann sie nicht begreifen, denn man kann, solange man Teil der Welt ist, nicht von der Seite auf sie blicken um ihre Form zu verstehen. Man könnte theoretisch alle Moleküle der Wolke untersuchen. Das bedürfte allerdings viel Zeit. Zeit in der sich die Welt bereits wieder verändert. Man müsste die Welt also einfrieren, dann könnte man alle Moleküle in Ruhe einzeln betrachten um auf diese Weise die Welt zu verstehen. Doch auch das kann man nicht. Die ganze Welt ist viel, viel zu groß. Man kann versuchen kleine Ausschnitte einzufrieren und zu verstehen. Und das ist es, was wir machen, wenn wir Bilder aufnehmen, Texte schreiben, Töne sammeln. Wir versuchen, kleine Ausschnitte der Welt einzufrieren um sie zu verstehen.

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