Das Zeitkonzept der Zelle

Wir verstehen Zeit in der Regel als linearen Ablauf (ich verstehe auch zirkuläre Zeitvorstellungen sind in diesem Sinne als linear, als Gerade, die zu einem Kreis gebogen ist). Wie ließe sich Zeit anders vorstellen? Die These dieses Textes ist, dass unser Zeitempfinden durch die Art und Beschaffenheit unsere Körper bedingt ist, eines Körpers, der ein Verdauungssystem besitzt, in dem die Stoffe die zum Leben gebraucht werden primär auf einer Seite aufgenommen und auf einer anderen Seite ausgeschieden werden. Dieser Text versteht sich als Gedankenexperiment, nicht um eine Wahrheit zu postulieren, sondern als Inspiration, Zeit anders, nichtlinear, ich möchte sagen, Korsakow-artig zu verstehen.

DAS ZEITKONZEPT DES REGENWURMS
Zeit scheint linear. Mit der Vergangenheit auf der einen Seite einer Geraden und der Zukunft auf der anderen. Und dazwischen ist ein Punkt, der das Jetzt symbolisiert. Der winzige, flüchtige Augenblick, in dem alles stattfindet, was ist.

Man könnte es das Zeitkonzept des Regenwurms nennen. Der Regenwurm gräbt sich durch die Erde, indem er auf der einen Seite Erde frisst und alles, was er nicht braucht, um Regenwurm zu sein, auf der anderen Seite wieder ausscheidet. Vor ihm die Stoffe, die sich umwandeln lassen in das, was das Lebewesen am Leben erhält. Vor sich die Zukunft (das was Regenwurm sein wird), vor sich mögliche Zukünfte, denn der Regenwurm kann die Richtung in die er sich bewegt ändern.

Hinter dem Regenwurm die Vergangenheit, das Ausgeschiedene, das, was nicht oder nicht mehr genutzt werden kann im Prozess des Lebens, der von Maturana und Varela “Autopoiesis” genannt wird. Zukunft kann man verstehen als das, was sein kann – das, was Baustein für den lebenden Körper sein kann.

Vergangenheit in diesem Sinne ist das, was durch den Regenwurm gegangen ist, was Teil des Regenwurms, innerhalb des Körpers war und nicht mehr ist. Das Jetzt ist in diesem Bild, was ist, was Körper ist, was im Körper ist, ob es verstoffwechselt werden kann, oder nicht.

Nun lässt es sich natürlich nicht sagen, ob ein Regenwurm eine Vorstellung von Zeit hat, aber wenn er eine hätte, würde ich vermuten, sie wäre linear.

DAS ZEITKONZEPT DER ZELLE
Wie würde eine Zelle Zeit empfinden? Eine Zelle ist von einer Membran umgeben, die durchlässig ist für die Stoffe, die die Zelle braucht, um Autopoiesis zu betreiben. Die Membran ist auch durchlässig für Abfallprodukte, die im Prozess des Lebens anfallen und die durch die Membran hindurch von innen nach außen in die Umwelt abgegeben werden. Die Dinge, die Zukunft und Vergangenheit ausmachen, liegen also in jeder Richtung um die Zelle und nicht, wie beim Regenwurm vorne und hinten. Vergangenheit und Zukunft ist also nicht in Richtungen geordnet, sondern in alle Richtungen um die Zelle herum.

Dieses Zeitkonzept, “das Zeitkonzept der Zelle”, kommt mir plausibler vor als das lineare Konzept. Denn es beschreibt viel besser, was ich wahrnehme, wenn ich mich beim Denken beobachte. Es beschreibt die “Gleichzeitigkeit” von Gedanken an Zukunft und Vergangenheit beim Denken, bei meinem zumindest.