Wir befinden und mitten in einem grundlegenden Wandel des Denkens. Wann dieser Wandel begann ist schwer zu sagen, starke Signale finden sich bereits in den 60er oder 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Gedanken und Ideen, die eine Gesellschaft prägen, wachsen langsam, so langsam, dass sie sich nicht aus dem Lärm der Zeit heraus vernehmen lassen; erst wenn man große Zeiträume betrachtet, lassen sie sich erkennen.
Es ist wie wenn man auf einen Fluss blickt. Wenn man an einer Stelle im Fluss die Bewegung von – sagen wir mal – sieben Milliaren Wassermoleküle betrachtet, dann ist das zwar eine Menge, es lässt sich aber dennoch nicht sagen, in welche Richtung der Fluss fließt. Es ist gut möglich, dass man auf einen Strudel schaut, der sich entgegen der eigentlichen Richtung des Flusses bewegt. Das ist nicht nur gut möglich es ist zu einem gewissen Grad sogar wahrscheinlich. Erst wenn man die Zeitspanne der Betrachtung erweitert und die Lage der Moleküle zu einem ausreichend großen späteren Zeitpunkt erneut misst, hat man überhaupt eine Chance zu erkennen, in welche Richtung der Fluss fließt.
Gesellschaften sind träge fließende Flüsse. So träge, dass man Dekaden betrachten muss, um eine einigermassen verlässliche Aussage treffen zu können, in welche Richtung sie sich bewegen.
Der Umschwung, der sich in der Wahl von Obama zeitigte, begann schon lange vor Obama. Ein riesiges Pendel hatte seine Richtung geändert. Und dann kam Obama, bekam den Friedensnobelpreis und es änderte erstmal sich so gut wie nichts. Die Kriege, die die USA führten, wurden weitergeführt, die Gesundheitsreform war eher ein Reförmchen, die Klassenunterschiede verstärkten sich weiter. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit Freunden erinnern, die große Hoffnung in die Wahl von Obama gelegt hatten und bitter enttäusch waren, dass auch nach Jahren ‚alles beim alten‘ geblieben war. Das Gespräch fand gegen Ende von Obamas zweiter Amtszeit statt noch bevor der Wahlkampf um seine Nachfolge (Hillary Clinton vs. Donald Trump) in den USA richtig begonnen hatte. Es war die Zeit vor Trump und der Höhepunkt der Frustration mit Obama. (Auslöser für das Gespräch war ein Text, den ich damals geschrieben hatte.)
Dann kam Trump. Der dümmste anzunehmende politische Unfall. Trump ritt auf einer Welle des Populismus der nicht nur in den USA, auch in Großbritannien, Brasilien, Polen selbst in Deutschland zu spüren war. Der Populismus kam in einer Zeit, in der es keine wirklich großen aktuellen Krisen gab. Keine großen Krisen? Mit ‚großer Krise‘ meine ich eine Krise, die sich mit Geld nicht lösen lässt.
Die meisten Probleme drehen sich ums Geld oder lassen sich vermeintlich mit Geld lösen. Die Finanzkrise (ab 2008) war ein solches Problem, zu einem gewissen Grad auch die Migrationskrise. Probleme vorrangig aus einem Blickwinkel (meist der des Geldes) zu betrachten ist fast immer nicht nachhaltig, doch wenn es ihnen gelingt das Publikum zu überzeugen, schlägt die Stunde der Populisten.
Es gibt Probleme, die sich mit Geld nicht lösen lassen. Der Klimawandel ist ein solches Problem, und aktueller: Corona. Klimawandel oder Corona sind komplexe Probleme. Alles Geld der Welt alleine vermag diese Probleme nicht zu lösen.
Populistische Systeme agieren, wenn sie mit derartigen Problemen konfrontiert sind, suboptimal – sie treffen dumme Entscheidungen. Es ist als ob sie, aufs Geld fixiert, die richtigen Hebel nicht finden, um sinnvoll zu agieren.
Nichtpopulistische Systeme sind hier effektiver. Eine langweilige Angela Merkel ist besser geeignet komplexe Probleme anzugehen als ein aufregender und aufgeregter Donald Trump.
Trump, Bolsonaro, Orbán, Johnson, Macron, Trudeau, Merkel. Je weniger populistisch desto besser die Performance in einer wahren Krise. Im Falle von Corona lässt sich das in Zahlen ablesen.
Der grundlegende Wandel, der seit Jahrzehnten von statten geht, ist der Wandel hin zur Multiperspektive. Probleme multiperspektivisch anzugehen ist nachhaltiger und bei einer bestimmten Art von Problemen (den wahren oder komplexen Problemen) die einzig erfolgversprechende Art. Das Pendant zum multiperspektivischen ist der monoperspektivische Ansatz („man muss es nur richtig machen“ – was auch immer ‚richtig‘ sein mag).
Die Gesellschaften werden multiperspektivischer, und damit toleranter, vielschichtiger und klüger, weil sie viele und immer mehr Blickwinkel in Betracht zu ziehen lernen. Das ist die Richtung in die der Fluß fließt. Und es lässt sich kaum übersehen, wenn man einen genügend großen zeitlichen Rahmen zieht, den man betrachtet (50 Jahre +).
Es fließen nie alle Wassermoleküle eines Flusses gleichzeitig in die selbe Richtung. Strudel und Gegenbewegungen sind normal, insbesondere dann, wenn der Fluss relativ schnell fließt.
Trump wird ein solcher Strudel gewesen sein. Trump steht für altes, überkommenes Denken. Es ist das Denken der Monoperspektive, des man muss es „richtig“ machen. Wenn das Publikum so denkt, braucht es jemanden, der in einfachen Worten sagt, was ‚richtig‘ und was ‚falsch‘ ist. Trump hat diese Funktion erfüllt. Das ist der Grund warum er für viele so attraktiv war und für viele immer noch ist. Jemand, der weiß, was richtig und falsch ist, braucht keine Experten, keine Berater, die den Blick erweitern. Trump ist ein Tier des alten Denkens, ein Dinosaurier, das sich noch einmal aufbäumt doch bereits dem Untergang geweiht ist.
In den USA haben sich nicht nur die Demokratische Partei sondern alle mehr oder weniger multiperspektivischen Kräfte in den letzten vier Jahren von Grund auf erneuert. Es entstehen neue Koalitionen auch mit Konservativen ( -> Lincoln Project ), mit der „man muss es richtig machen“ Fraktion am linken Rand hingegen nicht.
Monoperspektivisches Denken findet sich überall im politischen Spektrum, verstärkt allerdings an den Rändern – auf der rechten Seite ebenso wie auf der linken.
Trump hat der Erneuerung des Denkens hin zum Multiperspektivischen gut getan, es war nicht seine Absicht aber es war seine Funktion. Das neue Denken, es wäre ohnehin gekommen. Nach Trump kommt es nun umso schneller.
Das ist, was ich sehe.
“Trump, Johnson, Macron, Trudeau, Merkel. Je weniger populistisch desto besser die Performance in einer wahren Krise. Im Falle von Corona lässt sich das in Zahlen ablesen.”
Gedanken (über-)formen Wirklichkeit.
Merkel als Kanzlerin gar nicht zuständig für Pandemie (also falsche Aufzählung). Maßnahmen bisher Ländersache in Eigenregie. D also trotz “Länderchaos” im Ganzen glimpflicher davon gekommen als zB Italien. Merkel jetzt erst beim letzten Gipfel vllt im lead (schön wäre es), man wird aber sehen.
Abgesehen davon, dass horse-racing-charts bei der Pandemie am Thema vorbeigehen, ist China als Beispiel nicht auf dem Radar: Dessen postpandemisches Wachstum enorm im Vergleich zu D und EU. Trump und Bolsonaro weit davon entfernt, so durchregieren zu können. China weitaus autoritärer. Oder ist Populismus schlimmer als autoritär? Dann allerdings…
“Trump steht für altes, überkommenes Denken. Es ist das Denken der Monoperspektive, des man muss es „richtig“ machen.”
Aber genau das wollen viele annehmen, dass unsere Kanzlerin, als Chiffre für Politik, dies täte: Das (einzig) Richtige, sorgsam und optimal beraten, mit dem Händchen für die richtige Entscheidung aus den vorgelegten Fakten . Dazu passen suggestive Metaphern von “Wellenbrechern” u.ä. Jetzt auf die Bremse, hart und schnell, dann ist Weihnachten wieder alles gut. DAS ist der Glaube an DIE Lösung. Oder genauer: Die Hoffnung. Genau das geben Populisten den Leuten: Hoffnung. Die Monoperspektive schlechthin, um sich daran zu klammern. “Weihnachten alles wieder gut” steht als Chiffre für “Es wird wieder so wie vorher.” Trügerischste der monoperspektivischen Hoffnungen. Never ever.
Realitätssinn geht anders: Wir müssen uns langfristig auf das Zusammenleben mit dem Virus einstellen, wir brauchen Maßnahmen, den Alltag in Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst…
robust dagegen auszustatten, auf lange Zeit; Maßnahmen, die effektiv sind, weil gezielt, und evidenzbasiert, die zeigen, dass wir gelernt haben, das Virus mehr und mehr einzuschätzen. Und dass dies viele Anstrengungen auf vielen Ebenen braucht, also multiperspektivisches Vorgehen im wahrsten Sinne. Und wir haben, wenn wir uns anstrengen, gute Chancen darauf.
Demgegenüber ist der Wellenbrecher-Lockdown grob, mono, aus der Hüfte, nicht evident – und vor allem: Mit panikmachendem Sprachgebrauch (sie fürchtet das Schlimmste) der Mutter der Nation, was sie als Führungskraft disqualifiziert, musikalisch begleitet.
Die Multiperspektive ist schwerer zu vermitteln, da man immer auch mitteilt, irren zu können, es nicht zu wissen, eben nicht DIE EINE Lösung parat zu haben. Aber dennoch Zuversicht zu verbreiten als Begleitmusik. Das macht die gute Führungskraft aus.
Ich glaube, dass der grobe Lockdown verdeckt, dass man eben zu lange zu wenig getan hat – von 1-2 Bereichen, in ide ich ein wenig mehr Einblick habe, ist das gut zu belegen. Weil man eben nicht “multiperspektivisch” gedacht und gehandelt hat in der Zeit nach Welle Nr.1, preist man jetzt die Monoperspektove als Alleinseligenmachendes an.
Dennoch wünsche ich dem viel Erfolg, was anderes haben wir ja nicht.
“Trump ist ein Tier des alten Denkens, ein Dinosaurier, das sich noch einmal aufbäumt doch bereits dem Untergang geweiht ist.”. “Das neue Denken, es wäre ohnehin gekommen.”.
Das erinnert mich an Oswald Spenglers unsäglichen “Untergang des Abendlandes”. Eine Pseudomorphologie, bei der scheinbar organisch das Überkommen abstirbt, das Neue darin heranwächst und dann übernimmt.
Die Dinosaurier waren super eingespielt, es war ein Ereignis von außen, dass sie auslöschte. Also nix mit Verfallsdatum und alt und so.
Trump gibt es, weil es ein Bedürfnis nach ihm gibt, das Establishment hätte ihn erfunden, so wie hierzulande die AfD: Als Abspaltung, als Bad-Bank eigener heikler politischer Derivate und fauler Kredite. Man (die Mitte, das Goldene Kalb monoperspektivischer Politik) ist ja nicht die AfD, deshalb kann man sich beim Thema Flüchtlingsabwehr manches herausnehmen.
Wenn Trump geht, kommt bloß Trump light. Weniger energetisch, gebildeter, manierlicher…sicher. Trump hat den deplorables wenigstens das Gefühl vermittelt, es sähe sie jemand. Das zutiefst bürgerlich-aristokratische (sic!) Establishment zeigt denen seinen Stinkefinger ganz unverblümt. Es verharrt ganz in der Monoperspektive dessen, was war und sein soll: Klassenunsterschiede bis zum Jüngsten Tag. Weil Gott sie dann von den deplorables erlösen wird.
….multiperspektivisch wäre es dem layer allopathie einen layer homöopathie zuzuschalten….
schöner flußvergleich….