Hausärzte posieren nackt

Headline auf Spiegel online: “Hausärzte posieren nackt

Ein Artikel über Hausärzte, die sich beklagen, dass ihnen in Corona-Zeiten nicht genügend Schutzausrüstung zu Verfügung steht und die sich deswegen nackt fotografieren lassen.

Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Klar, es ist natürlich ein Problem, wenn Hausärzte nicht genügend Schutzkleidung haben. Ich habe auch eine Hausärztin, die ich sehr schätze, mit der ich über all die Jahre, die ich bei ihr in Behandlung bin, eine persönliche Beziehung aufgebaut habe. Irgendwann habe ich von ihr erfahren, dass sie sich neben ihrem eigentlichen Beruf als Künstlerin betätig. Ich glaube, sie hatte immer schon davon geträumt Künstlerin zu sein. Ich erfuhr, wohin sie in Urlaub fährt, aber nicht mit wem. Sie weiß, was ich beruflich mache, mit wem ich verheiratet bin, wohin ich in Urlaub fahre und nach den Urlauben fragen wir uns gegenseitig wie es war. Ich mag meine Hausärztin. Ich stelle sie mir ohne Schutzmaske vor und mich schaudert. Ich will nicht, dass sie keine Schutzmaske trägt, wenn sie Patienten gegenübertritt.

SPIEGEL: Frau Husemann, Sie haben sich nackt fotografieren lassen und das Foto im Netz veröffentlicht. Wie viel Überwindung hat Sie das gekostet?

Ich will mir meine Hausärztin nicht nackt vorstellen. Ich will sie mir in ihrem weissen Kittel vorstellen. Ich mag sie in ihrem weissen Kittel.

Jana Husemann: Ich habe einen ganzen Tag überlegt, ob ich das tun soll. Habe mit Kollegen gesprochen, mit meinem Partner. Das Internet vergisst nichts, das ist mir klar. Aber am Ende dachte ich: Das ist es mir wert.

Warum um Himmels willen zwingt jetzt jemand mein Hirn sich mir meine Hausärztin nackt vorzustellen? Nein – das will ich nicht!

Jana Husemann:
Wir brauchen Aufmerksamkeit. Die Hausärzte wurden in der Pandemie bisher übersehen, obwohl sie einen großen Anteil an der Versorgung der Patienten mit Coronavirus haben.

Ja, schon klar, aber warum nackt?

Jana Husemann, Jahrgang 1982, arbeitet seit 2013 als Hausärztin im Hamburger Stadtteil St. Pauli. Sie ist eine von vielen Medizinerinnen, die an der Aktion “Blanke Bedenken” teilnimmt. Die Ärzte fordern unter anderem eine bessere Ausstattung mit Schutzausrüstung.

Ich kann es nicht glauben. Ich klicke auf den Link von Blanke Bedenken.

Oh shit. Da sind noch mehr. Und ich frage mich: Was zum Teufel hat die geritten? O.k. klar, da waren sicherlich mehrere Faktoren am Start. Ich kann mir vorstellen, dass die Angst um die eigene Gesundheit auch mit im Spiel war. Dann stelle ich mir vor, wie ich mich an meinem Arbeitsplatz nackt fotografieren lasse. Hat schon was. Und wenn es nur die Gelegenheit zum Tabubruch ist.

Ich schaue mir die Bilder an, darauf sind mehr oder minder nackte Menschen zu sehen, die mit Klopapierrollen oder anderem dämlichen Assesoir mehr oder weniger albern vor einer Kamera possieren. Oh je, die Bildern erinnern mich viel zu sehr an die in meiner Jugend allzu verdrängte Sexualität. Erbärmlich irgendwie.

Wieder denke ich an meine Hausärztin, an die Flasche Desinfektionsmittel, die sie immer auf dem Tisch stehen hat und dass sie schon vor ein paar Jahren aufgehört hat, mir die Hand zu geben. Hat sie Angst in der jetzigen Situation oder ist sie genauso vorsichtig und professionell wie immer? Ich weiß nicht, ob sie das Problem mit der Schutzausrüstung auch betrifft. Ich habe sie zuletzt vor dem Ausbruch der Coronakrise gesehen.

Wenn meine Hausärztin zu mir sagen würde: “Ich habe Angst, wegen der fehlenden Schutzkleidung”, ich würde ihr anbieten, mich selbst auf die Suche nach Masken und so zu machen. Wenn Sie mir dann sagen würde, das sei total nett, aber es würde schon genügen eine Petition zu unterschreiben. Ich würde unterschreiben. Sofort.

Jana Husemann sagt: “Wir brauchen Aufmerksamkeit”.

Nackte menschliche Haut zieht Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit lässt sich umlenken, das hat Edward Bernays entdeckt, ein Neffe von Freud. Edward Bernays gilt als der Erfinder der PR, er hat 1929 in New York auf der Easter Sunday Parade junge Frauen rauchend vor Pressekameras vorbeilaufen lassen. Die Bilder wurden als Symbol von Emanzipierung gesehen, doch die jungen Frauen waren eigentlich nur von der Zigarettenindustrie benutzt worden, um sich den Markt der bis dato nicht rauchenden Frauen zu erschließen.

Mit Nacktheit lässt sich alles mögliche verkaufen, seien es Waschmaschinen, Autoreifen oder irgendein anderer Quatsch.

Irgendwann wurde es Mode, sich auch für moralische Gründe auszuziehen, für Tierschutz oder gegen politische Unterdrückung.

Klar, ich verstehe wie Werbung funktioniert, ich weiß von Aufmerksamkeitsökonomie und so.

Doch weil ich weiß, wie es läuft, versuche ich, wenn irgend möglich, Produkte und Erkenntnisse zu vermeiden, die mit Emotionen verkauft werden. Nicht, weil ich es für unangebracht halte, nackte Haut zu zeigen, sondern weil ich gelernt habe, dass mir jemand irgendwas andrehen will, wenn man erst mit Sex oder Status meine Aufmerksamkeit kapern muss, um sie auf etwas umzulenken, auf das ich nicht von alleine meine Aufmerksamkeit gerichtet hätte.

Ich habe gelernt, dass ich in der Regel verarscht werde, wenn mit etwas anderem Aufmerksamkeit erregt wird, als mit dem um was es geht.

Klar, verstehe ich, dass es ein Problem ist, wenn Ärzte zu wenig Schutzmasken haben. Ich kann es mir vorstellen.

Doch wie groß ist das Problem auf einer Skala von 1 bis 10?

Keine Ahnung. Hilft es mir, es besser einzuschätzen, nachdem ich den Artikel auf Spiegel-Online gelesen habe?

Das einzige, was ich nach der Lektüre sicher weiß ist, dass eine Hausärztin in Hamburg sich mit einigen Kollegen vor der Kamera ausgezogen hat, weil offenbar zu Befürchteten war, dass ihr Problem ansonsten nicht genügend Aufmerksamkeit bekäme.

Ich nehme mir vor, morgen meine Hausärztin anzurufen und sie zu fragen. Ich werde ihr sagen, dass ich einen Artikel auf Spiegel-Online gelesen habe und ich frage sie, ob das mit der Schutzkleidung wirklich so ein Problem ist.

Und dann malt mir mein Hirn aus, wie meine Hausärztin am Telefon zu mir sagt: “Sie meinen den Artikel mit den nackten Ärzten? Ja, auf den habe ich auch geklickt.”

Ich glaube, ich möchte dieses Gespräch nicht führen.

 

Wenn Sie die Petition trotz der albernen Aktion unterschreiben wollen: www.blankebedenken.org

2 Replies to “Hausärzte posieren nackt”

  1. Also ich finde die Aktion super!
    Bin natürlich gleich meinem voyeuristischen Trieb nachgegangen und auf die Webseite, um mir die zum Teil peinlichen Fotos der nackten Ärzte und medizinischem Fachpersonal anzuschaun. Das tut weh!
    Was man nicht alles tut in der Not. Darum geht’s ja und ich finds gut.
    Und zur Belohnung hab ich natürlich gleich die Petition unterschrieben und sogar nen kleinen Betrag für die Verbreitung gespendet. Damit noch mehr Leute diese peinlichen Fotos sehen und Schmerz bei deren Anblick empfinden.

    1. Womit dann also bewiesen wäre, dass diese Art der Kommunikation funktioniert! Nicht bei mir aber – hey – ich war in diesem Fall Überträger der Information. Wobei es ja eigentlich nicht die Information war, die da vorrangig übertragen wurde sondern primär Gefühl. Und Gefühl wirkt wahrscheinlich besser als Information. Verstehe. Danke für den Hinweis!

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