Der Mythos vom Low Attention Span

Ungefähr im Jahr 2003 habe ich es auf einer Konferenz das erste mal gehört – die Nutzer des Internets würde an einer seltsamen Krankheit leiden. Während einer Podiumsdiskussion in Amsterdam fragte ein Experte ob die Internet-User nicht einfach alle einen Low-Attention-Span hätten. Die Zuhörer schienen die Frage zu mögen und das lag daran, dass die meisten im Publikum  Medienmacher der alten Medien waren und die hielten von den neuen, völlig unverständlichen Internetnutzern nicht viel. Von da an hörte man den Gedanken immer öfter. Immer mehr Experten stellten sich auf Bühnen und proklamierten, dass sich der moderne Mensch nicht mehr lange konzentrieren könne.

Die einfache Formel  dass alles einfach sein muss, damit es die neuen Mediennutzer auch fressen wurde so oft wiederholt, bis es alle in der Branche verinnerlicht hatten. Über mehr als eine Dekade werden nun schon die Inhalte in den Medien (nicht nur im Internet!) auf diesen Typus des unkonzentrierten Konsumenten zugeschnitten. Die Inhalte, wurden kürzer, prägnanter und Journalisten, Politiker und später sogar Fachleute genierten sich nicht, komplexe Sachverhalte völlig zu verstümmeln – vorgeblich der besseren Verständlichkeit dienend.

Mittlerweile glauben Millionen von Menschen simplifizierenden Erklärungen. Sie fühlen sich informiert und wissend, sind gegenüber komplexeren Gedanken grundsätzlich skeptisch. Wieso sollte man etwas kompliziert sagen, wenn man es auch einfach ausdrücken kann? Die Menschen wurden über die Jahre immer mehr konditioniert, das Einfache zu bevorzugen und das Komplizierte abzutun.

Als ich damals das Argument vom Short-Attention-Span zum ersten mal hörte, fühlte ich mich unwohl. Doch es sollte Jahre dauern, bis ich in der Lage war, in Worten auszudrücken, woher dieses Unwohlsein stammte. Die Beobachtung war falsch und der Grund ist ganz einfach:

Wenn eine Person einen ganzen Abend lang kurze YouTube-Clips ansieht, hat sie dann einen Short-Attention-Span? Mit Sicherheit nicht, im Gegenteil. Sie schenkt einer Übung stundenlange Aufmerksamkeit. Das Argument war, dass die einzelnen Erzähleinheiten im Internet nur kurz waren. Es war eine richtige Beobachtung aber der falsche Schluss. Tatsächlich waren die Einheiten kurz doch es lag vorranging and der  begrenzten Bandbreite des damaligen Internets. Downloadgeschnindigkeit, Traffic und Speicherplatz, waren limitierte Ressourcen. Nichtsdestotrotz war das Argument schon zu seiner Zeit blödsinnig. Warum sollte die Aufmerksamkeit eines Menschen geringer sein, der sich 90 Minuten mit YouTube beschäftigt, als bei jemandem, der einen 90 minütigen, linearen Film ansieht? Ein Film besteht auch aus verschiedensten Szenen, Gedankensprüngen und assoziativen Verbindungen. YouTube auch. Es ist in der Hinsicht sogar um einiges Anspruchsvoller.

Die Annahme, der moderne Medienkonsument wolle kurze und knackige Informationen auf Kosten von Tiefe und Differenziertheit wurde im Laufe der Zeit so etwas wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die Medieninhalte wurden immer oberflächlicher, und dadurch wurden tatsächlich viele Menschen zu Oberflächlichkeit erzogen.

Warum ist diese Frage immer noch von Bedeutung?
Eigentlich könnte man sagen, es is doch egal, was zuerst war, der oberflächliche Mensch oder die oberflächliche Kommunikation. Denn heute seien Millionen von Menschen wenig komplex im Denken und für diese Menschen sei die oberflächliche Kommunikation genau richtig.

Medienunternehmen gehen davon aus, dass der Mediennutzer komplizierte Inhalte scheut, wie der Teufel das Weihwasser. Man blickt auf Statistiken und zieht Klickzahlen zu rate. Doch auf die Knickzahlen zu starren ist wie in die Sonne zu schauen – man wird blind für alles was sonst noch herum ist. Und so übersehen die Medienmacher etwas grundsätzliches. Die Klicks werden von denen generiert, die sich an die Konventionen des Oberflächlichen angepasst haben. Die anderen klicken nicht, oder dort, wo es die Mainstream Medienmacher nicht hinsehen.

Sam Harris ist Philosoph, Neurowissenschaftler und Podcaster. In seinen Podcasts macht er vieles nach allen Regeln der Kunst falsch. Die Gespräche, die er führt, sind ausufernd, kompliziert, er überlegt sich nicht, was das Publikum hören will, seine Themen entsprechen seinen eigenen Vorlieben. Vor kurzem führte er ein Interview mit einem Physiker, in der Einleitung sagte Sam Harris, Studenten der Mathematik hätten sicherlich ihre Freude daran, allen anderen seiner Zuhörer empfahl er, sich den Podcast zwei mal anzuhören. Der Podcast dauerte mehr als 1 ½ Stunden.

Das grundsätzlich neue des Internets ist, dass es annähernd unendlich tief ist, dass es anders als bei früheren Medien wie Radio, Fernsehen, Film, Zeitung oder Büchern keine zeitlichen Beschränkungen gibt. Milliarden von Menschen haben Zugang und immer mehr Menschen lernen, durch die Oberflächlichkeit hinabzutauchen.

Sam Harris erstellt seine Podcasts mit einfachsten technischen Mitteln. Seine Gesprächspartner sind Koryphäen in den verschiedensten Feldern, sie kommen gerne zu ihm, weil er ihnen die Zeit gibt, in die Tiefe zu gehen und keine blödsinnigen Vereinfachungen fordert.

Sam Harris erreicht mit jedem seiner Podcasts ca. 2 Million Hirne, unter ihnen die besten Hirne der Welt .